Es gibt im 19. Jahrhundert nur wenige große Werke für Chor und Orchester, die sich auf den ersten Blick so unspektakulär präsentieren, wie das Requiem op. 89 von Dvorak. Biographische Anekdoten zum Anlass oder Auftrag der Komposition sucht man vergebens. Das zwischen 1876 und 1877 entstandene ‚Stabat mater‘ hingegen war mit der Lebenssituation des Komponisten ganz eng verbunden und ließ die unverhohlene Betroffenheit Dvoraks gegenüber der Textvorlage deutlich erkennen. Die Uraufführung in Birmingham wurde zu einem sensationellen Erfolg und bescherte dem Komponisten zunächst in England, dann aber auch international eine beispiellose Berühmtheit.
Verschiedene Versuche, an diesen Triumph anzuknüpfen, konnten die Erfolgsgeschichte jedoch zunächst nicht wie erwartet fortschreiben. Zwei große Chorwerke entstanden für das Musikfestival in Birmingham, zunächst ‚Die Geisterbraut‘- eine Kantate- und wenig später das Oratorium ‚Die heilige Ludmila‘, Werke, die schon durch den schwierigen Umstand der Übersetzung des Textes aus dem Tschechischen unter keinem günstigen Stern standen. Beide Werke behandeln zudem inhaltlich eine eher lokal bedeutungsvolle Thematik, die sich überregional jedoch schwerer vermitteln ließ. Der Popularität des Komponisten tat dies keinen Abbruch. Bereits 1888 wurden in Birmingham Pläne gemacht, die den Auftrag für ein neues abendfüllendes sinfonisches Chorwerk Dvoraks für das Musikfestival vorsahen. Die Auftragslage des Komponisten hatte sich indes grundlegend verändert. Dvoraks Reisetätigkeit dieser Zeit erinnert an den internationalen und global auftretenden Künstler im 20. Jahrhundert. Als ‚Exponat‘ der musikalischen Tradition europäischer Hochkultur im 19. Jahrhundert war er längst zu einem wichtigen Repräsentanten der aktuellen Musik in den Konzertsälen nahezu aller Metropole seiner Zeit geworden. Das Publikum der Bildungsbürgerschicht reichte ihn in der ganzen Welt herum. Der Weg führte ihn in ‚neue Welten‘ und unbekannte Kulturen, ein Aufbruch, der sich jedoch erst im nächsten Jahrhundert und mit anderen exponierten Komponisten auch klingend bemerkbar machen sollte. Ein Pionier war Dvorak nicht, dennoch deutet der Lebensweg des in der Tradition verwurzelten Genies in eine moderne Richtung.
Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der 1888 direkt oder indirekt erteilte Auftrag nicht prompt erledigt werden konnte, der ‚moderne‘ Künstler braucht und verbraucht Zeit. Erst zu Beginn des Jahres 1890 findet Dvorak Ruhepausen, um die ersten Ideen zum Requiem zu skizzieren. Die Auswahl des liturgischen Textes in lateinischer Sprache erscheint im Hinblick auf die jüngsten Erfahrungen plausibel. Die Vertonungsvorlage hält sich an das offizielle Kirchenformular für Totenmessen, ohne jedoch ein wirklich liturgisches Werk zu initiieren. Der Umfang des Werkes und seine aufwändige Besetzung lassen eine liturgische Funktion nicht zu und verweisen diese Messe viel deutlicher als jedes andere Requiem in den Konzertsaal.
Aber auch hier gibt es kein Entweder-Oder, keine geistliche Musik aus weltlicher Motivation oder die spürbare Kontroverse zwischen Tradition und Modernität. In Bezug auf seine 1887 vollendete D-Dur- Orgelmesse schreibt Dvorak in einem Brief von „einem Werk des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zum allmächtigen Gott.“
Wir dürfen diese Haltung auch auf das Requiem übertragen: „Sie dürfen sich nicht wundern, dass ich so religiös bin, aber ein ungläubiger Künstler könnte so etwas nicht bewerkstelligen.“ Das steht ganz im Gegensatz zu den Schöpferpersönlichkeiten der berühmten kirchenmusikalischen Werken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und ist dennoch keine Ausflucht in eine oberflächlich, frömmelnde musikalische Sprache, die eine naive Gottergebenheit vorrausetzt.
Das Thema der großen Fuge ‚Quam olim Abrahae‘ ist an ein Kirchenlied angelehnt, dass in Böhmen der damaligen Zeit noch gebräuchlich war: ‚Fröhlich lasst uns singen, Gott den Vater preisen…‘. Dies ist nur eines der Elemente, das einen Bezug zum regionalen Kontext des Komponisten bildet und dem Werk ein unaufdringliches Lokalkolorit beigibt, ohne an irgendeiner Stelle auch nur den Eindruck zu erwecken, das Klischee einer böhmischen Hirtenmesse zu bedienen. Wie auch an anderen Stellen des Werkes (z.B. Im Offertorium, wenn der Erzengel Michael besungen wird) verbindet sich ein folkloristisch anmutender Tonfall mit der optimistischen Grundausrichtung, die immer wieder Hoffnung verbreitet.
Musikalisch thematische Klammer des gesamten Requiems ist ein chromatisches Motiv, das in seiner Grundstruktur an J.S. Bach erinnert. Das traditionelle und noch im 19. Jahrhundert beliebte B.A.C.H.- Motiv ist dennoch keinesfalls der eigentliche Pate dieser Idee, obwohl sich zunächst der Eindruck aufdrängen will. Zitiert wird hingegen der Beginn des Fugenthemas zum zweiten Kyrie der h-moll- Messe von J.S. Bach. Sieht man von der rhythmischen Gestalt ab, konstatiert, dass Dvoraks Motiv gleich zu Beginn das Bach’sche Fugenthema um einen Halbton tiefer erklingen lässt und vergleicht die Grundtonarten beider Werke ( h- moll bei Bach, b-moll bei Dvorak), so drängt sich eine innere Verbindung auf, die ein unreflektiertes Zitat, eine bloße Kopie meidet. Am Anfang des Requiems kann man den Eindruck gewinnen, Zeuge einer Entwicklung zu sein, die eine Reise in unermessliche Tiefen erwarten lässt, begleitet von einer Sprache, die seine Wurzeln im traditionellen Erbe der Musikgeschichte nicht verleugnet. Der Respekt vor der geschichtlichen Leistung, die immer wieder neue Wege zu inspirieren in der Lage ist, nimmt offenbar den Komponisten in die Verantwortung für den Aufbruch zu neuen Ufern. Die sinfonische Verarbeitung des Hauptmotivs zeugt von einem meisterhaft beherrschten Handwerk, das auch bei Dvoraks Zeitgenossen seines gleichen sucht. Genialer Ideenreichtum sieht sich einem außerordentlichen handwerklichen Können gegenüber gestellt. Da kann man einem modernistischen Krawall getrost entsagen. Neutöner war Dvorak nicht, aber Erneuerer allemal.
Dvorak selbst geht den Weg nicht bis ans Ende, er geht ein Stück weit mit, begleitet Prozesse unspektakulär wie ein Wegbereiter. Der zweite Teil des Requiems beginnt mit dem Offertorium. Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil scheint etwas geschehen zu sein; Dinge haben sich verändert und erfordern eine neue Differenzierung. Die Choreinwürfe gehen rhythmisch sehr detailliert in die Gesamtstruktur der Musik ein. Man gewinnt den Eindruck eines außerordentlich facettenreichen Wandgemäldes, das auch bei häufigem Hinsehen immer wieder erstaunliche Neuigkeiten offenbart. Neue harmonische Wendungen entstehen durch die kontrapunktische Notwendigkeit der motivischen Arbeit. Dennoch bleibt Dvorak mit beiden Beinen in der harmonischen Struktur Richard Wagners verhaftet, entsagt den musikdramatischen Versuchungen die z.B. das Verdi- Requiem zum Erlebnis machen und fasziniert in seiner farbigen, vielfältigen Instrumentation ohne jemals die gigantischen Orchestrierungen und sinfonischen Monumente der nachfolgenden Generation vorweg zu nehmen.
Janacek rüstet zur ‚nationalen tschechischen Musik‘, Gustav Mahler fängt böhmische Folklore ein, setzt Volksmusik gegen klassische Formen, bricht traditionelle harmonische Strukturen auf, indem er modale – auf fremdartigen Skalen beruhende – Melodien auf dem Kontext harmonischer Übereinkunft kontrovers und desintegrativ gegenüber stellt. Richard Strauss definiert den üppigen Orchesterklang neu. Debussy gewinnt neue musikalische Erfahrungen aus anderen ‚Welten‘ und mischt die europäische Musikszene damit gründlich auf. Strawinsky und Schönberg stehen am Start. All diese sich abzeichnenden Entwicklungen blicken aus der Brille des 19. Jahrhunderts in eine neue Zeit.
Davon unbehelligt geht Dvorak seinen Weg, der eine Epoche beschließen wird. Still und unscheinbar öffnet er Fenster. Türen und Tore werden andere öffnen. Am 31.Oktober 1890 beendet er die Arbeit an der Partitur des Requiems – wir sind also in der glücklichen Lage, beinahe zeitnah die Vollendung des Werkes nach 120 Jahren mit einer Aufführung zu feiern. Am 9. Oktober 1891 dirigiert Dvorak selbst die Uraufführung beim Musikfestival in Birmingham, es wird erneut ein großer Erfolg, und das Requiem beginnt, die Welt zu erobern. 1892 reist Dvorak auf Einladung in die USA. In seiner Sinfonie ‚aus der neuen Welt‘ gibt er nicht etwa Kunde von musikalischen Errungenschaften, die eine neuen Sprache inspirieren, die Klänge aus seiner neuen Welt werden von Sehnsucht und Heimweh bestimmt. Perspektiven im Blick und Abschied im Herzen, beschreitet dieser Musiker seinen Weg ohne eine unumstößliche Zielsetzung, aber in der Gewissheit, dass es ohne Trennung keinen Weg geben kann, der letztlich voran geht. Trennung braucht Abschied, und darin liegt die Motivation für den Neuanfang, den Aufbruch in eine neue Zeit.
So etwas kann auch heute nicht spektakulär sein. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb Dvoraks Requiem nach seiner grandiosen Rezeptionsgeschichte im Repertoire unserer Musikbetriebe an den Rand gedrängt wurde. Dvoraks Juwelen lassen sich nicht ohne das aktive Ohr der Zuhörer goutieren, sie brauchen den neugierigen Spürsinn eines Entdeckers. Ihre Neugier wünsche ich unserem Konzert; Ihnen wünsche ich die Lust der Schatzsucher.