Die Aufführung der Matthäuspassion in Berlin im Jahr 1829 unter Leitung Mendelssohns ist sehr gut dokumentiert. Die Aufführungspartitur, die Stimmensätze für das Orchester und die Chorhefte sind überliefert und befinden sich in der Bodleian Library Oxford.
Unser Konzert basiert auf diesem umfangreichen Quellenmaterial. Das heutige Notenmaterial wurde direkt aus diesen Handschriften abgeschrieben und erstellt. Alle Eintragungen, Streichungen, Angaben zu Tempi und Dynamik, alle Ergänzungen zur Artikulation und Phrasierung wurden übernommen. Die im Zuge der Probenarbeit später hinzugefügten Eintragungen (z. B. des Konzertmeisters Eduard Rietz) wurden im Probenprozess bedacht und in die Überlegungen bezüglich unserer Aufführung einbezogen.
Das Stimmenmaterial lässt eine kleine Orchesterbesetzung vermuten, die jedoch nicht zweifelsfrei ausgemacht werden kann. Aus Platzgründen, die Konzertbühne der Singakademie betreffend, kann aber davon ausgegangen werden, dass die Vermutung einer kleinen Orchesterbesetzung wahrscheinlich ist (ich danke Herrn Wolfgang Dinglinger für wertvolle Hinweise). Die Tagesliste der Singakademie führt alle beteiligten Sängerinnen und Sänger untergliedert in Stimmgruppen auf. Insgesamt haben 158 Personen mitgesungen, darunter 8 Solistinnen und Solisten. In diesem Punkte unterscheiden wir uns heute beispielsweise sehr deutlich. Sowohl die Chorstärke als auch die Anzahl der Gesangssolisten weicht von der verbürgten Besetzung ab.
Der Choraleinsatz im Eingangschor wurde von allen 8 Solisten übernommen. In unserer Aufführung wird ein Schulchor diese Passagen singen, es handelt sich jedoch um einen gemischt besetzten Chor, also keine Knaben- oder Kinderstimmen, wie wir es aus der langen Aufführungstradition der Matthäuspassion kennen. Tenöre und Bässe oktavieren den Alt und Sopran. Die Sopran- und Alt-Arien wurden auf drei Sängerinnen gleichmäßig verteilt. Da ein Großteil der Arien gar nicht musiziert wurde, konnte die Aufteilung der Partien nicht wie ursprünglich in der Partitur von Bach vorgesehen ausgeführt werden.
Die erste Arie – im Original für den Alt komponiert – wurde von einer Sopranistin gesungen. Die Konzertkritiken zeigen jedoch, dass diese Lösung möglicherweise nicht sehr glücklich war. Wir werden diese Arie deshalb wieder von der Altistin singen lassen.
Die kurzen Einsätze der ‚zwei falschen Zeugen’ im zweiten Teil müssen aus Gründen unserer Besetzungsreduktion der Soli auch anders verteilt werden, der Tenorpart des zweiten falschen Zeugen wird heute von der Altistin übernommen.
Die Orchesterbesetzung folgt den überlieferten Quellen. Da eine Oboe d’amore und eine Oboe da caccia nicht mehr gebräuchlich waren und in Berlin dieser Zeit wahrscheinlich kein Englischhorn zur Verfügung stand, musste Mendelssohn eine alternative instrumentale Lösung finden: zwei Klarinetten wurden dort einge- setzt, wo eine instrumentale Umbesetzung unbedingt nötig war. Mendelssohn hat den Einbezug der Bassetthörner erwogen, die dem Klang der Klarinetten sehr ähnlich sind. Zur Frage, ob dieser ursprüngliche Instrumentierungs-Plan schließlich künstlerisch verworfen wurde oder doch aus pragmatischen Gründen verworfen werden musste, können wir heute keine gesicherten Aussagen treffen. Möglicherweise wollte sich Mendelssohn die Option der Bassetthörner offen halten, vielleicht hat sogar am Ende der Einsatz der Bassetthörner doch noch stattgefunden, in unserer Aufführung beschränken wir uns auf die Besetzung der Klarinetten. Diese ‚Uminstrumentierung’ wurde von Mendelssohn umsichtig geplant. Der übliche Einsatz der Oboe d’amore zu Beginn des zweiten Teils verblieb bei der Oboe, auch wenn einige Passagen auf der nicht transponierenden Oboe gar nicht spielbar sind.
Eine schwerwiegende Debatte ist zu Beginn dieses Jahrhunderts zum Thema der Begleitung der Secco-Rezitative diskutiert worden. Fanny Hensel (Mendelssohn) beschrieb, dass ihr Bruder vom ‚Flügel’ aus, mit einem Taktstock die Aufführung leitete. Musikwissenschaftliche Artikel der neuesten Zeit vertreten die Hypothese, dass die Aufführung vom Oesterlein-Cembalo aus dem Privatbesitz Zelters geleitet wurde. Diese Vermutung ist denkbar, aber nicht zweifelsfrei, da die angeführten und missverstandenen Indizien diese These nicht belegen können. Der Blick in die Aufführungspartitur lässt den Fehler schnell erkennen. Die Konzertkritiken der Zeit machen deutlich, dass es einen Trend gab, dem modernen Umdenken der Praxis, den Generalbass nicht weiterhin vom ‚Kielflügel’ (Cembalo) sondern künftig vom relativ neu entwickelten Fortepiano (Hammerflügel) spielen zu lassen, den Vorzug zu geben. Mendelssohn liebte das Cembalo zu gegebenen Anlässen – dazu sind etliche Äußerungen überliefert.
Andererseits kannte, spielte und arbeitete er selbstverständlich an Hammerflügeln, wie andere Überlieferungen belegen. Ob er sich der Autorität seines Lehrers Zelter gebeugt, gefügt oder aber aus Überzeugung angeschlossen hat, ist nicht mehr zu klären. Ob Zelter sein Instrument, das sich gewöhnlich in der Privatwohnung im Haus der Singakademie befand, auch für dieses Konzert zur Verfügung stellte, ist ebenfalls ungeklärt. Zelter war zunächst vom Plan dieser Aufführung nicht überzeugt und musste überredet werden, seinen Widerstand aufzugeben. Nicht einmal die Hälfte der Mitglieder seiner Singakademie konnte überzeugt werden, an diesem Konzert teilzunehmen, ganz zu schweigen davon, dass natürlich nicht die Singakademie die Verantwortung der Veranstaltung übernahm, sondern sich vielmehr eine Miete für dieses Konzert auszahlen ließ.
Mendelssohn selbst hat wenig später in Leipzig eine ganz andere Tradition der Generalbassbegleitung kennen gelernt und praktiziert. Ob er nun modernen Ambitionen nachgab, sich in die überlieferte Tradition einfügte, ob er sich unabhängig machen konnte oder wollte, bleibt offen.
Ein Hammerflügel hätte in jedem Falle zur Verfügung gestanden und wäre eine Option gewesen. Eine Orgel stand definitiv nicht zur Verfügung. Wir werden die Secco-Rezitative mit einem Hammerflügel begleiten lassen. In den Secco-Rezitativen gesellte sich damals ein Solo-Cello hinzu, eine Erweiterung durch weitere Instrumentalbässe war nicht vorgesehen, wie wir aus den Orchesterstimmen ersehen können. Der heute übliche Kontrabass wurde – wie schon zu Bachs Zeit – von der Violone gespielt, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch in Berlin noch gebräuchlich war. Wir werden aus praktischen Erwägungen auf ‚historische’ Instrumente verzichten und besetzen heute Kontrabässe