Wer Anton Bruckners ganzes kompositorisches Schaffen verstehen will, muss um seine festverwurzelte Frömmigkeit wissen. Er war ein tiefgläubiger, den Traditionen und Lehren der katholischen Kirche unkritisch bejahender Mensch, der durch die Mysterien des Glaubens dem Kyrie-Ruf folgte und gleichsam als gequälter Mensch nach Erbarmen flehte. Seine an Einfalt und Naivität grenzende Religiosität erschöpfte sich vor allem in der gewissenhaften Befolgung von Geboten und Ritualen.
So sehen wir ihn Buch führen über die tägliche Verrichtung seiner religiösen Pflichten: Abgeleistete Rosenkränze, Vaterunser-, Ave Maria- und Salve Regina-Gebete. Sobald die Angelus-Glocke läutete, unterbrach er seine Arbeit, um knieend den „Engel des Herrn” zu beten.
So steht die Kirchenmusik im Anfang seines musikalischen Schaffens. Hier war es vor allem die Orgel seines Geburtsortes Ansfelden. Ihr widmete er die ersten Schöpfungen, das Requiem und die b-moll-Messe. An die 30 geistliche Werke, Messen und Motetten kennzeichnen die musikalische Fruchtbarkeit Bruckners bis 1864.
Ave Maria
Das 1856 komponierte Werk für vierstimmigen gemischten Chor und Orgel bildet mit seinem fünf Jahre später entstandenen ungleich bedeutenderem Schwesterwerk, dem siebenstimmigen Ave Maria, gewissermaßen einen musikalischen Brückenkopf über die Ausbildungsjahre des Studiums bei dem berühmten Lehrer Simon Sechter in Wien.
Musikalisch hat man es hier mit einem gediegenen polyphonen Satz zu tun, dessen Themenexpositionen jeweils von zweistimmigen homophonen Achtelbewegungen konstrastiert werden. Nach der chorischen Begrüßung nimmt der Alt den Englischen Gruß mit dem gratia plena auf, dem sich der Sopran anschließt. Dann folgt der dreimalige Anruf Jesus a cappella. Nach dem viertaktigen homophonen Sancta Maria setzt die Orgel wieder ein. Es folgt eine Art Coda, bevor die Motette endet.
Seine Uraufführung fand am ersten Sonntag im Oktober zum Rosenkranzfest in der Stiftskirche St. Florian statt.
Das siebenstimmige Ave Maria für gemischten Chor in F-Dur a cappella aus dem Jahre 1861 ist eine Komposition mit tiefgehender Wirkung und lässt zum ersten Mal den Genius hören. Diese Motette war gedacht als Einlage zur Gabenbereitung (Offertorium) in der Liturgie der Messe. Die Linzer Zeitung pries sie als „ein religiös empfundenes, streng kontrapunktisches Werk, das einen glänzenden Beweis seiner Studien und seiner besonderen Befähigung für schaffende kirchliche Kunst geliefert hat“. Und der Bruckner Biograf Max Auer befindet: „Dieses kindlich fromme Werk …kann in seiner Palestrinensischen Erhabenheit und seinem doch so tief empfundenen Gefühlsinhalt wohl als das erste Brucknersche
Meisterwerk angesehen werden“.
Beginnend mit dem dreistimmigen Sopran-Altchor schwingen die Stimmen wie in einem himmlichen Gleichklang. Ihnen antwortet der vierstimmige Männerchor im 2. Takt mit einer Dissonanz und der Wucht einer Betonung der mit einem von Bruckner darüber gesetzten Akzent wahrgenommen wird. Eine jähe Unterbrechung bremst den linearen Verlauf: Dreimal erfolgt der Ruf Jesus, zuletzt triumphierend.
Die zweite Hälfte der Motette gliedert sich in zwei Abschnitte. Zunächst rufen je dreistimmige Zweitaktgruppen quasi doppelchörig den Namen Marias an, um sich mit den Worten Mater Dei zu vereinen, gefolgt von einem homophonen Satz des ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae. Mit einem aus der Tiefe anschwellenden, dann diminuendierenden Amen verklingt die Motette.
1882 komponierte Bruckner das dritte Ave Maria. Er schrieb dies als Gebet für eine Altstimme mit Klavier-oder Orgelbegleitung für die stimmbegabte Tochter des Oberlandesgerichtsrats in Wels.
Die emphatische Hervorhebung des Wortes fructus ist neu und den beiden vorigen Ave-Maria-Motetten so nicht vorgebildet. Wie in den beiden Vorgängern auch hier die dreimalige Anrufung des Namens Jesus, die, die Dynamik steigernd, sich bis zum für eine Altstimme ungewöhnlich hohen ges emporschwingt. Ein siebentaktiges Zwischenspiel führt dann zunächst zur Ausgangstonart F-Dur zurück. ln einem dreifachen piano wird im nunc et in hora mortis nostrae unisono die Bitte um Beistand in der Todesstunde angesprochen. Mit einem zehntaktigen Amen klingt das Gebet aus und endet mit einem Nachspiel wie eine Bekräftigung der textlichen Bitte.
Messe Nr.1, d-moll
Die Messe in d-moll kann man ohne Zweifel als das Schlüsselereignis in Bruckners kompositorischer Entwicklung ansehen: eine reife kirchenmusikalische Form, ausgewogen und vollendet. Sie kennzeichnet den Höhepunkt seiner künstlerischen Auseinandersezung mit der kirchenmusikalischen Gattung Messe. Nicht umsonst deutet die Bezeichnung Nr.1 darauf hin, dass Bruckner alle zuvor von ihm geschaffenen Messen nicht für allzuwert erachtete. Sie bleibt in der Auslegung des Messtextes zeitkonform und von theologischer Präzision.
Der Musikwissenschaftler Dieter Backes spricht in diesem Zusammenhang von „vollkommener, harmonischer Verschmelzung von liturgischem Text und musikalischer Gestaltung in Verbindung mit bis dahin kaum gekannter musikalischer Ausdruckstiefe“.
Am 4. Juni 1864 berichtet die Linzer Zeitung: Der Domorganist Herr Anton Bruckner arbeitet mit großer Emsigkeit an der Composition einer Messe, welche noch im Laufe dieses Sommers in Ischl zur Aufführung gelangen soll.
Sie entstand denn auch im Zeitraum von vier Monaten, angesichts ihres inneren Reichtums der musikalischen Gedanken eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne. Am 20. November 1864 fand dann im alten Dom zu Linz unter persönlicher Leitung von Anton Bruckner die Uraufführung statt. Das Werk wurde mit Begeisterung aufgenommen. Im „Linzer Abendboten“ war zu lesen: Die gestern in der Domkirche exekutierte Messe in d-moll von Bruckner ist nach dem Ausspruche unserer bewährtesten Kunstverständigen das Ausgezeichneteste, was seit langem in diesem Fach geleistet wurde.
Und Bruckner schreibt an seinen Freund Rudolf Weinwurm: „dass die Veranstaltung so außerordentlich besucht, ja überfüllt war, sei Dir als Beweis, wie sie in der Kirche angesprochen hat, was mich umso mehr wundert, da die Composition sehr ernst und sehr frei gehalten ist“.
Im Februar 1867 dirigierte der Förderer Bruckners, Johann Herbeck, die Messe in der Hofburgkapelle. Es trug ihm einen Kompositionsauftrag des k.k. Obersthofmeisteramtes ein: Die Komposition der f-moll Messe.
Wie hoch er selbst seine Messe einschätzte, verdeutlicht das „Miserere“-Motiv aus dem Gloria später im Adagio seiner IX. Symphonie.
Te Deum
Dich Gott, loben wir!
Te deum laudamus!
So lautet der feierlich ambrosianische Lobgesang der römischen Kirche. Bruckner selbst hat es sein bestes Werk, „den Stolz seines Lebens“ genannt. Der Überlieferung nach hat er es „Gott gewidmet aus Dankbarkeit“, wie er formulierte, „weil es meinen Verfolgern noch immer nicht gelungen ist mich umzubringen“. 1881 beginnt er mit den ersten Skizzen und vollendet das Werk 1884. Man kann das Te Deum vielleicht als eines der machtvollsten Werke bezeichnen, die Bruckner je geschrieben hat. Dies, unisono, gleich zu Beginn ist von äußerst eindringlicher Wirkung – als wollte der Gesang verkünden: Alle Menschen auf Erden sprechen die selbe Sprache, wenn sie Gott loben und preisen. Das folgende Te ergo quaesumus – Dich also bitten wir ist im Ausdruck des Tenorsolos geradezu aufregend, wenn man den unerwarteten Sprung vom C zum hohen As vernimmt.
Wie ein Sturm braust das Aeterna fac über mächtigen Streicherbewegungen dahin. Sie scheinen das Ewige zu illustrieren. Das Salvum fac populum – Rette dein Volk wiederholt die flehenden Bitten des Te ergo, nur nimmt hier auch der Chor daran teil. Mit dem Per singulos dies benedicimus te – Alle Tage preisen wir dich setzt das Unisono-Thema des Anfangs mit vollem Orchester wieder ein. Das Miserere flüstert der Chor nur noch und beim folgenden Super nos – Über uns verstummen die Instrumente.
Das letzte Stück In te Domine speravi – Auf dich habe ich gehofft, oh Herr ist zweiteilig: Einem gewissermaßen homophonen „Präludium“ folgt eine Fuge über den selben Text. Indem Bruckner die Textzeile aufbricht In te Domine speravi und Non confundar in aeternum und sie zwei voneinander leicht abweichenden Fugenthemen zuordnet, entsteht der Eindruck einer Doppelfuge. Das Non confundar in aeternum – Nicht werde ich zuschanden werden in Ewigkeit erfährt aus dem piano eine Steigerung mit hoher Intensität, um in die lang ausgehaltenen hohen Sopranstimmen in Tonkombinationen zu münden, die weit über die Bruckner sonst eigene Harmonik hinausreichen.
Das Te Deum trat danach einen wahren Triumphzug an. Über 30 Aufführungen im In- und Ausland gab es bis zu seinem Tode 1896. „Wenn mich Gott einst zu sich ruft und Rechenschaft von mir fordert, dann halte ich ihm die Rolle von meinem Te Deum hin und er wird mir ein gnädiger Richter sein“, so Anton Bruckner.