Wenn man noch vor dem ersten Advent ein weihnachtliches Konzertprogramm plant, wird man sicher nicht als ‚vorausschauend‘ gelobt, sondern eher gescholten, dem allgemeinen Trend der übereilten Weihnachtshysterie zu frönen, die nur den ausufernden Konsum im Fokus hat.
Das erste Werk unseres heutigen Programms, Friedrich Kiels ‚Der Stern von Bethlehem‘ ist tatsächlich am 25. April 1884 in Berlin uraufgeführt worden. Auch die anderen beiden Kompositionen beinhalten neben den zweifelsfrei weihnachtlichen Texten Vertonungen der Psalmen des Alten Testamentes, die aus christlicher Sicht auf die Ankunft des Heilands verweisen.
Nicht so sehr die Geburt Jesu als solche ist Mittelpunkt der Thematik unserer Werke, es geht vielmehr darum, dass wir uns aufmachen, die Krippe zu finden.
Der Stern weist uns den Weg nach Bethlehem, wie einst den legendären Königen aus dem Morgenland. Interessanterweise lassen sowohl die Komposition Kiels als auch das Werk von Rheinberger die Besetzungsfrage der Heiligen Könige offen. Eine solistische wie auch eine chorische Lösung ist laut Partitur denkbar.
Wir sind auf dem Weg und befinden uns in Vorbereitung der Ankunft des Herrn. Diese Zeit wird Advent genannt, steht natürlich deutlich in Beziehung zur Weihnachtszeit, ist aber eher ‚weihnachtlich‘ im Charakter als inhaltlich an die tatsächliche Weihnachtsbotschaft gebunden.
Die heutigen Werke sind künstlerische Zeugnisse aus drei großen und wichtigen Kulturzentren in Europa des 19. Jahrhunderts: Berlin, München und Paris.
Camille Saint-Saëns wurde 1835 in Paris geboren, war einer der wichtigsten französischen Komponisten im 19. Jahrhundert und ist sowohl als Interpret, wie auch als Komponist und Pädagoge von herausragender Bedeutung, war lange Zeit Organist an berühmten Pariser Kirchen und wurde 1881 als Mitglied in die Akademie der schönen Künste berufen. Einer seiner berühmten Schüler war Gabriel Fauré.
Populär ist Saint-Saëns nach wie vor durch den Karneval der Tiere und die Oper Samson et Dalila, viele andere Werke sind vergessen. 1921 verstarb er auf einer Reise nach Algier, wurde nach Frankreich überführt und auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt. Das Oratorio de Noël ist 1858 entstanden. Der konservativ ausgerichtete Komponist suchte einen spezifisch französischen Weg der Musik seines Landes und kämpfte gegen deutsche Einflüsse, insbesondere die expansive musikalische Sprache der Zeit nach Richard Wagner. Die starke Anlehnung an alte traditionelle Formen der Liturgie ist in seinem Weihnachtsoratorium allgegenwärtig. Daneben ist der Ausblick auf den neuen französischen Ton unüberhörbar, auch wenn er die alten Meister ehrt und ihnen ein Denkmal setzt. Gleich zu Beginn im Prélude erweist er einen außerordentlichen Respekt, indem er im Untertitel „Dans le style de Séb. Bach“ nicht nur einen großen Komponisten ehrt, sondern die Grundrichtung der künstlerischen Ausrichtung vorgibt.
Auch für Friedrich Kiel ist Bach der Fixstern des Kontrapunkts. Die zahlreichen Fugen im ‚Stern von Bethlehem‘ sind ein sehr treffliches Zeugnis der starken Verbundenheit mit den Kompositionen
von Bach. Friedrich Kiel steht mit beiden Beinen fest in der gewachsenen deutschen Musiktradition.
1821 in Puderbach geboren – heute gehört der Ort zu Bad Laasphe in Nordrhein-Westphalen – kommt Friedrich Kiel 1842 nach Berlin, studiert zwei Jahre, bevor er zunächst als freischaffender Pianist und Komponist in Berlin arbeitet und 1866 Kompositionslehrer am Stern’schen Konservatorium, später sogar Mitglied in der Akademischen Hochschule für Musik wird. Auch er hat berühmt gewordene Schüler unterrichtet: August Bungert, Arnold Mendelssohn und Franz Ries. Der ‚Stern von Bethlehem‘ ist dem Spätwerk Kiels zuzurechnen. Die Komposition entstand 1883. Im selben Jahr erleidet er einen Verkehrsunfall mit einem Pferdewagen, der ihn bis zu seinem Tode 1885 gesundheitlich stark belasten wird.
Josef Gabriel Rheinberger wurde am 17. März 1839 in Vaduz/ Liechtenstein geboren, bereits mit 12 Jahren kam er nach München. Hier studierte er, wirkte als Komponist und Pädagoge und blieb
der Stadt bis zu seinem Tode 1901 treu. Die Reihe der namhaften Schüler ist – wie schon bei den beiden anderen Komponisten unseres heutigen Programmes beachtlich: Engelbert Humperdinck,
Ermanno Wolf-Ferrari und Wilhelm Furtwängler. Das kompositorische Schaffen Rheinbergers ist außerordentlich umfangreich und vielschichtig. Dennoch sind heute nur wenige Werke präsent. 1867 heiratet Rheinberger die sieben Jahre ältere Dichterin und Witwe Fanny (Franziska) Hoffnaß. 1889 fassen beide den Plan zu einer gemeinsamen Arbeit.
Es entsteht zunächst der neunteilige Gedichtzyklus, die Komposition jedoch schließt sich im Januar 1890 an. Mitte Juni 1890 ist dann die Weihnachtskantate ‚Der Stern von Bethlehem‘ vollendet. Partitur und Aufführungsmaterial erscheinen 1891 im Druck. Der Klavierauszug wird jedoch erst 1892 gedruckt. Fanny Hoffnaß war zu diesem Zeitpunkt schon schwer erkrankt. Rheinberger berichtet in einem Brief aus dem Jahr 1900 dazu: „Vor mir liegt ein in weißes Pergament gebundenes Buch mit einem goldenen Stern. Es ist der Clavierauszug meines ‚Stern von Bethlehem‘, zu dem Fanny den Text gedichtet hat – schon schwer krank erwartet sie sehnsüchtig die Druckbogen, die noch rechtzeitig in dieser von ihr gewünschten Form ihr am Christabend auf das Bett gelegt werden konnten. Dazu hatten die barmherzige Schwester und Olga (Rheinbergers Nichte) ein kleines Christbäumchen auf dem Nachttischchen aufgestellt und angezündet und ich musste ihr im Nebenzimmer den Hirtenchor und die Vision Maria leise vorspielen, wobei sie im Clavierauszug mitlas. (Wir hatten an diesem Abend ihren Tod erwartet, es dauerte aber zur Verwunderung des Arztes noch sechs Tage) dann zeigte sie matt lächelnd auf den Stern und sagte zu mir: ‚Den werd ich jetzt bald sehen, bald – bald!‘ Sie drückte das Buch an die Brust und schlief vor Schwäche ein und Olga trug weinend das Christbäumchen aus dem Zimmer. Das war mein Weihnachtsabend 1892. Es fiel mir dies alles so ein, da ich eben einen Brief von einem Musikdirektor in Luzern erhielt, der mir über die
zweimalige Aufführung des Werkes berichtete, das anzuhören ich mich bisher noch nicht entschließen konnte.“
Rheinberger hat diese wunderbare alpenländische Romantik seiner musikalischen Weihnachtskrippe nie selbst gehört. Das ist bedauerlich, denn so vieles liegt eng beieinander, die schmerzliche Erinnerung neben dem Trost des Lichts seines Sterns der Erwartung, an den er glaubte. Alles scheint ineinander verwoben: Krippe und Kreuz, Weihnachten und Passion, Geburt und Tod. Wir sind auf dem Weg, es ist Advent.