Felix Mendelssohn Bartholdy war nicht nur ein großer Komponist, sondern ein ebenso bedeutender Interpret. Als Dirigent wurde er insbesondere in Leipzig und ganz speziell als Gewandhauskapellmeister zur Legende. Seine Auslandsreisen führten ihn nach in unterschiedliche europäische Regionen mit starker musikalischer Tradition. Seine Konzerte und musikalischen Aktivitäten in England sind jedoch von besonderer Bedeutung. Großbritannien hat ihn sehr deutlich geprägt. Das schottische Volkslied blieb zeitlebens eine kompositorische Inspirationsquelle.Als Dirigent trat er insbesondere für die Werke der barocken Komponisten Bach und Händel mit besonderem Eifer ein. Die Aufenthalte in London nutze er zum Studium der originalen Partituren Händels. In der Queens Library wurde er auch im Hinblick auf das Oratorium ‚Israel in Aegypten’ fündig, die Ergebnisse seines Studiums fanden Eingang in die Aufführungen des ‚Israel’, die er insgesamt fünfmal dirigierte, zunächst 1833 in Düsseldorf zum Niederreihnischen Musikfest in einer Version, die der aufführungspraktischen Situation des Konzertes geschuldet war. Die fehlende Orgel wurde durch zusätzliche Bläserstimmen ersetzt, die damals als zweiteilige Werkstruktur bekannte Partitur wurde durch Einschübe aus anderen Werken Händels oder diesem Oratorium zugeschriebene Rezitative ergänzt. Die von Mendelssohn komponierte ‚Trompeten- Ouvertüre’ wurde dem Werk voran gestellt, ein Behelf, da die Aufführung ungewöhnlicher weise mit einem Rezitativ begonnen hätte. Dieser Umstand wird in zukünftigen Aufführungen nicht nur in Kauf genommen. Wie Annette Landgraf in einem Kapitel/ Artikel zu den ersten Bemühungen um die ‚Verwirklichung der Intention des Komponisten Händel’ ausführt gewinnt Felix Mendelssohn Bartholdy Inspiration zur Komposition eigener Oratorien aus der Interpretation barocker Werke, der Verweis auf den Beginn des ELIAS scheint in diesem Zusammenhang besonders schlüssig. Der kreative Ausgangspunkt einer Interpretation unter pragmatischen Voraussetzungen bleibt für den Künstler des 19. Jahrhunderts die entscheidende Perspektive auf das Werkverständnis. Thomas Synofzik hat in seinem Artikel ‚Nach dem „Originalmanuscript“? Felix Mendelssohns Düsseldorfer Aufführung von Händels Israel in Egypt’, Göttinger Händel- Beiträge Bd. 11 deutlich dargelegt, dass die Aufführungen unter Leitung Mendelssohns nicht nach dem ‚Original’ musiziert wurden. Beachtlich ist jedoch Mendelssohns Bestreben, die Authentizität mehr und mehr frei zu legen. Nach dem ersten Konzert in Düsseldorf 1833 wurde der ‚Israel’ im Oktober desselben Jahres in Teilen aufgeführt und das Konzert durch lebende Bilder illustriert.
1836 fand die Aufführung des Oratoriums in der Leipziger Paulinerkirche statt. Die Orchersterstimmen wurden vom Verlag Simrock ergänzt und aufgefüllt. Die Bläserstimmen wurden jetzt von der Orgel übernommen und weggelassene Chorpassagen eingefügt. In dieser- im Ablauf etwas geänderten- Version, ohne eingefügte Arien, jedoch wieder mit Bläserstimmen versehen und ohne Orgel, wurde die Aufführung zum Niederreihnischen Musikfestes in Düsseldorf 1842 wiederholt.
Als Mendelssohn 1843 die Aufgabe der Neugründung des Königlichen Domchores in Berlin übernahm, wurde die letzte Aufführung unter seiner Leitung realisiert. Am 31. März 1844 war ‚Israel in Aegypten’ in der Garnisonskirche zu erleben. Das Aufführungsmaterial für das Orchester kam aus Leipzig. Annette Landgraf verweist in diesem Zusammenhang auf die vermutete Ähnlichkeit beider Konzerte, in Leipzig 1836 und in Berlin 1844. In ihrem Buch ‚Felix Mendelssohn Bartholdy und die Musik der Vergangenheit’, Bosse 1969 bezieht sich Susanna Großmann- Vendrey auch auf den Vergleich dieser beiden Konzerte. Die Publikation untersucht die Aufführungen jedoch beinahe ausschließlich anhand der Briefe und Tagebucheintragungen. Die dort gewonnen Erkenntnisse sind wichtig und aufschlussreich. Wir erfahren aus der Korrespondenz mit William Sterndale Bennett viele Einzelheiten im Zusammenhang mit dem Studium verschiedener Partiturausgaben. Die von Mendelssohn in Bezug auf ‚Israel in Egypt’ stets verwendete Arnold- Ausgabe wurde stetig durch Einsicht in verschiedene Ausgaben ergänzt. Sterndale Bennett begleitete die Aufführung Mendelssohns in Leipzig mit neugierigem, aber durchaus kritischem Interesse. Das Konzert einer Rekonstruktion der Mendelssohn- Aufführungen basiert heute praktischerweise auf der Bennett- Ausgabe, die sich von den späteren Ausgaben des 19. Jahrhunderts unterscheidet.
Das Berliner Konzert 1844 wird jedoch nicht nur eine Wiederholung der Leipziger Fassung gewesen sein. Im Widerstreit zwischen Authentizität und eindringlicher Wirkung einer aktuellen Aufführung wird es so manchen persönlichen Zwiespalt gegeben haben. Der einstige Fund zusätzlicher Rezitative für den ersten Teil konnte der Erkenntnis einer fälschlichen Zuschreibung sicher nur zu Aufführungszwecken standhalten. Da die Edition des ‚Israel’ im Sommer 1844 begann, jedoch davon auszugehen ist, dass die eingeschobenen Rezitative auch in Berlin gesungen wurden, wird hier die Differenz zwischen Ausgabe und Interpretation am besten deutlich. Die von Mendelssohn edierte Ausgabe verzichtet auf die zusätzlichen Rezitative. Das Berliner Konzert war bedeutungsvoll aufgeladen und mit einer großen Anzahl Beteiligter geplant sein. Aus verschiedenen Quellen wissen wir, dass diese Aufführung eigentlich schon früher geplant war (Großmann- Vendrey), jedoch aus biographischen Gründen warten musste. Aus einem Brief von Fanny an Rebekka vom 18.3.1844 entnehmen wir die stattliche Anzahl der Mitwirkenden, es sollen 450 Beteiligte gewesen sein.
Zum Königlichen Domchor gesellten sich Sängerinnen und Sänger der Singakademie, begleitet von der Königlichen Kapelle und Solisten der Königlichen Oper. Das Konzert wurde in zwei Zeitungen besprochen, in der Berliner Musikalischen Zeitung finden wir zum einen die Ankündigung des Konzertes und eine Rezension, die durch eine Besprechung in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung vom 12. April 1844 ergänzt wird. In diesen Artikeln wird auf die Besetzung der Solisten, Ausführungen zur deutschen Übersetzung, die Konzertaufstellung und den Umbau der Orgelempore in der Garisonskirche, die damit quasi zu einer Konzertkirche wurde eingegangen. Die Rezitative wurden dem Zeitverständnis gemäß von zwei Celli (jeweils mit Doppelgriffen) und einem Kontrabass, jedoch ohne ein Tasteninstrument begleitet.
Abgesehen von eingeschobenen Rezitativen, die Mendelssohn in England gefunden hatte und für die praktische Einrichtung eines Konzertes zweckmäßig und dem Verständnis förderlich empfand, wurde dem Bestreben, der ‚authentischen’ Partitur am ehesten gerecht zu werden, wahrscheinlich erstmals nachgegangen. Ohne Bläserstimmen und mit einer Orgelstimme versehen wurde diese Aufführung zur letzten Interpretation unter Mendelssohns Leitung, bevor er im Juli des Jahres 1844 begann, dieses Werk für die Londoner Handel Society neu zu editieren.
Eine Ausgabe des Werkes hatte sich Mendelssohn schon 1841 vorgenommen (Großmann- Vendrey). In Breifen an den Verleger Simrock wurde der Plan beschrieben. Die Ausführung unterblieb, weil das Interesse nicht groß genug erschien. Den zweiten Versuch Anlauf zur Edition unternahm Mendelssohn mit einem neuen Verleger: Breitkopf & Haertel. Interessanterweise ist ein Druckexemplar des Textbuches der Leipziger Aufführung archiviert. Wir wissen nicht für welchen Zweck dieser spezielle Druck entstand, vielleicht für eine spätere Aufführung, für das Berliner Konzert?
Eine neue Ausgabe kam jedoch wieder nicht zustande. Mit der Gründung der Londoner Handel Society gab es eine neue Gelegenheit. 1843 datieren die ersten Anfragen und schließlich kam man überein.
Diese Edition ist in mehrfacherweise von großem Interesse für unsere heutige Sicht auf die Interpretation barocker Werke im 19. Jahrhundert. Mendelssohn verzichtet auf alle Zusätze im Hinblick auf zusätzliche Artikulation und Dynamik. Instrumentale Ergänzungen entfallen konsequent, beispielsweise die Verwendung der Posaunen zur Verstärkung der Chorstimmen, die bei seinen Zeitgenossen durchaus üblich war und auf eine Tradition zurück geht, die aus unserer historischen Sicht plausibel ist.
Eine Orgelstimme ist hinzugefügt. Der Vergleich der handschriftlich überlieferten Orgelstimmen zu den Konzerten 1836 und 1842 mit der gedruckten Orgelstimme in der Edition macht deutlich, dass es trotz etlicher Abweichungen im Detail eine grundlegende Idee gibt, die sich durch alle Aufführungen bewahrt hat. Die Orgel wurde nicht als Continuo- Instrument eingesetzt, sondern behauptete ihre klangliche Eigenständigkeit. Beim Nichtvorhandensein einer Orgel zur Aufführung sollte – nach Anweisung Mendelssohns- die Orgelstimme zum Einsatz zusätzlicher Blasinstrumente genutzt werden.
Ein weiterer Zusatz in der Mendelssohn- Edition ist der beigefügte Klavierauszug. Karl Breidenstein hatte diesen für die Berliner Singakademie angefertigt und mit einer eigenen Übersetzung versehen. Die Singakademie hatte dereinst nicht auf diese, bei Simrock erschienene Ausgabe zurück gegriffen. Für Mendelssohn war sie jedoch nicht nur Grundlage seiner Konzerte, sondern auch Begleiter seiner Ausgabe, die 1845/ 1846 im Druck erschien.
Aus Briefen an Fanny vom 7. Mai 1833 und an das Düsseldorfer Komitee des Niederrheinischen Musikfests vom 30. April 1833 erfahren wir von einer Partiturausgabe und einem Textbuch zum ‚Israel’ von Georg Smart. Dieser hatte beides durch seinen Vater ‚geerbt’, der wiederum einer Aufführung unter Leitung Händels beigewohnt haben soll.
Daher vermeinte Smart, die Tempi Händels verbürgt zu haben. Mendelssohn fügte die Metronomzahlen des Klavierauszugs in seiner Ausgabe hinzu.
Ebenso dokumentiert der beigefügte Klavierauszug die interpretatorischen Vorschläge zur Dynamik und Artikulation, die in fünf Konzerten erprobt waren.
Damit wird diese Ausgabe zu einer unverzichtbaren Quelle insbesondere in Bezug zur letzten Aufführung in Berlin, die zeitlich in sehr starker Nähe zur Edition stand.
Die zahlreichen Quellen der Handschriften aus Oxford, der Berliner Staatsbibliothek und der New Yorker Public Library helfen, die Absichten der Aufführungen und die abschließende Editionsarbeit zu rekonstruieren.
Ein Textbuch/ Programmheft zur Aufführung in Berlin fehlt leider. Der Vergleich dieser Dokumente zu den Konzerten 1836 und 1842 lassen jedoch interessante Rückschlüsse zu. Die Konzerte in Leipzig 1836 und in Berlin 1844 haben schon aufgrund der Besetzung eine deutliche Verbindung. Sie dürften dem Bestreben nach Authentizität am deutlichsten entsprochen haben. Auch wenn es eine Aufführung nach dem ‚Originalmanuscript’ wohl kaum gegeben hat, so beansprucht doch die Auseinandersetzung Mendelssohns mit dem ‚Israel’ eine gewisse Pioniertätigkeit im Hinblick auf eine historisch informierte Aufführungspraxis, die jedoch stets von pragmatischen Konzerteinrichtungen für die jeweilige Aufführung geprägt – bzw. überschattet- war.
Mendelssohn ist eine typische Künstlerpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Dennoch erkennen wir heute in seinem Bestreben nach Authentizität alter Meister ein Novum der Musizierpraxis, das in seinem Wert erst heute wirklich gewürdigt werden kann.
Besonderer Dank für wertvolle Hinweise und Unterstützung gilt:
Dr. Ralf Wehner, Mendelssohn – Werkverzeichnis
Prof. Dr. Wolfgang Dinglinger, Universität der Künste Berlin
Dr. Roland Schmidt-Hensel, Staatsbibliothek Berlin
Annette Landgraf, Hallische Händel-Ausgabe/Händel-Haus
Prof. Kai Uwe Jirka, Staats- und Domchor Berlin
Dr. Cornelia Thierbach, Mendelssohn-Haus Leipzig
Hermann Max und Martin Kahl, Rheinische Kantorei und Festliche Tage Knechtsteden