Bildungsreisen waren im 19. Jahrhundert ein Privileg. Dennoch war dieser Luxus für die Familie Mendelssohn durchaus mehr als nur ein Statussymbol wohlhabender Bürger.
Humanistische Bildung und eine 'kosmopolitische' Grundhaltung bildeten unabdingbare Bausteine innerhalb der Erziehung, insbesondere den Sohn Felix betreffend.
Der außerordentlich sprachbegabte junge Komponist wurde in die Welt geschickt, sich zu 'verorten', um den richtigen, der Karriere förderlichen Platz zu finden. Er kehrte aus Überzeugung heim und wurde zu einem entschieden deutschen Komponisten.
Im Mai 1830 brach Felix zu einer zweijährigen Reise auf, die ihn zunächst über Leipzig und Weimar nach Wien führte. Hier schenkt ihm der Freund Franz Hauser für die weitere Reise ein Büchlein mit Luthers Liedern. Dieses Geschenk wird eine wichtige Inspirationsquelle während der ganzen Reise und den Italienaufenthalt bedeutend begleiten.
In rascher Reihenfolge entstehen die bekannten Choralkantaten 'Vom Himmel hoch', 'Wir glauben all an einen Gott' und 'Verleih uns Frieden'. Zudem komponiert Mendelssohn ausgesprochen viele Werke für die Kirchenmusik. Mit dem Choral 'Mitten wir im Leben sind' schreibt er eines seiner zentralen Werke innerhalb der 'Kirchenmusik op. 23'. Fast alle geistlichen Werke dieser Zeit ordnen sich den Besetzungswünschen seines Lehrers Zelter unter und lassen vermuten, dass diese Werke letztlich für die Berliner Singakademie geschrieben wurden.
An die ansässigen Interpreten dachte er wohl kaum. Die Zeilen der Briefe vom 7.12. 1830 und 17.01.1831, die sich ausgiebig der vernichtenden Kritik gegenüber italienischen Musikern widmen, sprechen für sich: ' ….die Orchester unter allem Begriff, … die päpstlichen Sänger sogar werden alt, sind fast ganz unmusikalisch, treffen selbst die herkömmlichen Stücke nicht richtig, und der ganze Chor besteht aus 32 Sängern, die aber nie beisammen sind. ….. die paar Geigen greifen jeder auf seine Art, setzen jeder verschieden ein und an, die Blasinstrumente stimmen zu hoch oder tief,… das Ganze bildet die furchtbarste Katzenmusik, und das sind Compositionen, die sie kennen.'
Seine neuen Bekanntschaften lobt er ausgiebig, wenn er auch abschätzig über ihre Musik spricht: '…auch Baini denke ich recht auszukosten, er ist der pfiffigste Pfaff, den man sich denken kann,… mit seinen Compositionen freilich ist es nicht weit her, und so überhaupt mit der ganzen Musik hier.'
Die kompositorische Auseinandersetzung mit Bach erreicht einen Höhepunkt in Italien, und sicher wird ein gewisses Maß an 'Sendungsbewußtsein' nicht gefehlt haben, denn er berichtet brieflich von seiner ausgiebigen Schilderung der Bach'schen Passionsaufführung und den Reaktionen: ' ….Bunsen besitzt nämlich den Klavierauszug davon, den hat er den Sängern der päpstlichen Kapelle gezeigt, und die haben vor Zeugen ausgesagt, daß dergleichen von menschlichen Stimmen nicht auszuführen sey. Ich glaube das Gegenteil.' In Bezug auf seine eigenen geistlichen Werke schreibt er weiter: 'Und daß ich gerade jetzt mehrere geistliche Musiken geschrieben habe, das ist mir ebenso Bedürfnis gewesen, wie es Einen manchmal treibt, gerade ein bestimmtes Buch, die Bibel oder sonst was zu lesen, und wie es Einem dabei recht wohl wird. Hat es Ähnlichkeit mit Seb. Bach, so kann ich wieder Nichts dafür; denn ich habe es geschrieben, wie es mir zu Muthe war, und wenn mir einmal bei den Worten so zu Muthe geworden ist, wie dem alten Bach, so soll es mir um so lieber sein. Denn du wirst nicht meinen, daß ich seine Formen copire ohne Inhalt; da könnte ich vor Widerwillen und Leerheit kein Stück zu Ende schreiben.'
Was also treibt Felix Mendelssohn an, geistliche Musik zu schreiben, wenn nicht ein konkreter Anlass gegeben ist, was bedeutet der sprunghaft wechselnde thematische Focus?
Der Weg durch das Kirchenjahr scheint unproblematisch, der thematische Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit geistlichen und theologischen Themen ist recht flexibel, Weihnachten, Karfreitag und Ostern scheinen ihm dicht beieinander zu liegen.
Für den Berliner Dom komponierte er in den 40er Jahren die 'Sechs Sprüche op. 79', kurze Chorwerke in Bezug auf die neue preußische Agenda. Bemerkenswert ist auch hier die zyklisch verstandene Themenverschränkung. Ein Halleluja beendet jeweils den kurzen musikalischen Abschnitt, bedeutungsvollerweise auch beim Werk, das mit 'Am Karfreitag' überschrieben ist.
Die kirchlichen Feste werden im übergeordneten Zusammenhang dargestellt, erscheinen in einem kommunikativen Miteinander, ohne Weihnachten gibt es keine Passion, das Leiden Christi hingegen erklärt die Bedeutung der Menschwerdung Gottes.
Dieses In-Bezug-nehmen spiegelt sich auch in der kompositorischen Handschrift geistlicher Werke Mendelssohns wider. Das Konzept der Oratorien wäre mit dem 'Christus' in einer kompletten Trilogie aufgegangen. Geplant waren drei Teile: die Geburt Jesu, das Leiden Christi und die Auferstehung. Hinterlassen hat uns Felix Mendelssohn lediglich Fragmente zum ersten und zweiten Teil. Sein früher Tod verhinderte die Vollendung des Werkes, das 1847 in Angriff genommen war. Librettist war Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen, den Mendelssohn 1830 währende der Italienreise als preußischen Gesandtschaftssekretär in Rom kennen gelernt hatte. Leider sind auch alle nicht vertonten Teile des Librettos verschollen. Wir können uns also nicht einmal einen Eindruck vom gesamten Werkplan machen und müssen uns auf die wenigen Ausschnitte beschränken, bei denen ganz sicher noch nicht das 'letzte Wort' gesprochen war. Als Entschädigung gewährt uns der Komponist jedoch ungewollt einen interessanten Einblick in seine Werkstatt. Der Versuch, Weihnachten, Passion und Auferstehung in einem Werk, in einem Oratorium zusammen zu fassen, ist an sich neu und wurde nicht sehr oft wieder aufgegriffen. Wir fühlen uns an Händels Messias erinnert und wissen doch, dass hier nicht dieselbe Idee realisiert werden sollte. Querverweise und sich auf einander beziehende Kommentare hätten die thematischen Verschränkungen zu einem großen, einheitlichen Bild im Stile des 'Paulus' oder des 'Elias' werden lassen. Die Sicht als Zusammenfassung und das Einfügen in einen übergeordneten Verbund bleibt nun uns selbst überlassen.
Sicher ist Weihnachten ein fröhliches Fest, dessen ungeachtet muss uns aber gewahr sein, dass mit diesem Fest auch der unausweichliche Leidensweg beginnt, der schließlich im freudigen Fest der Auferstehung mündet und uns die frohe Botschaft zurück lässt, dass der Tod am Ende keine Macht über uns gewinnen wird. Ein Kreislauf schließt sich: Leiden, Tod und Verzweiflung bestehen neben der Hoffnung, die allein zu dankbarem Lob Anlass gibt.
Die Feste des Kirchenjahres werden zu Leuchttürmen, die uns in die Verantwortung nehmen, wenn wir uns auf den Weg machen. Das Leiden Christi ist verbunden mit Schuld und Sünde der Menschen, so versteht es der christliche Glaube: wir haben Jesus ans Kreuz geschlagen; und diese Verantwortung kann nicht übertragen werden.
Mendelssohn verzichtet im Passionsbericht konsequent auf Sätze wie: 'die Juden aber sprachen', es ist der 'ganze Haufen', der hier zu Gewalt aufruft. Es geht um uns Menschen, nicht um die als 'Sündenböcke' auserkorenen Juden. Den Tendenzen des christlichen Antisemitismus, der vor allem in katholischen Gegenden bis hinein ins gerade vergangene Jahrhundert bestand, wird hier geschickt der Boden entzogen. Ein Antisemit kann nicht Christ sein, weil er die Grundlagen seines Glaubens unwissend verleugnet. 'Es wird ein Stern aus Jakob aufgehn.' So schließt der Weihnachtsteil im 'Christus' und errichtet einen dieser Leuchttürme, die Mendelssohn gerne in Choralsätze münden ließ: 'Wie schön leuchtet der Morgenstern' heißt es verheißungsvoll am Ende dieses Teils.
'Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbei gekommen' heißt es in einem anderen Werk, dass auch der Erleuchtung gewidmet ist. Als Sinfonie beginnend und als Kantate endend, schrieb Mendelssohn den’Lobgesang‘ als Auftragswerk für das Leipziger Gutenbergfest 1840.
Mit beachtlichem Erfolg wurde das Werk in der Leipziger Thomaskirche am 25. Juni 1840 uraufgeführt. Das Thema der Erleuchtung ist hier mehr als nur die inhaltliche Beigabe. 'So lasst uns anlegen die Waffen des Lichts und ergreifen die Waffen des Lichts' lässt Mendelssohn den Chor fugieren, und dieser Komponist weiß genau, wovon er hier singen lässt.
Die Idee der Erleuchtung war der integrale Bestandteil der jüdisch-bürgerlichen Aufklärungsbewegung, die mit Moses Mendelssohn in Berlin ihren Anfang nahm.
Religiosität und Aufklärung sind in dieser Konstellation kein Widerspruch.
Welchen wichtigen Stellenwert diese Erleuchtung im Werk Mendelssohns hat, wird deutlich, wenn man sich die großen Oratorien vergegenwärtigt. 'Mache dich auf, werde Licht' heißt eine zentrale Stelle im 'Paulus', am Ende des 'Elias' zieht der Tenor ein wichtiges Fazit, wenn er behauptet: 'Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich.' 'Es wird ein Stern aus Jakob aufgehn' hieß es im Weihnachtsteil des 'Christus' .
Am Schluss wendet sich Mendelssohn wieder den Töchtern Zions zu – auch dieses Element ist ein durchgehender 'Baustein' der Kompositionswerkstatt: 'Ihr Töchter Zions weint über euch selbst und über eure Kinder.' Mit einem Choral endet das Fragment: 'Wo bist du Sonne blieben, die Nacht hat dich vertrieben, die Nacht des Tages Feind. Fahr hin, du Erdensonne, wenn Jesus, meine Wonne, noch hell in meinem Herzen scheint.' Dieses fragmentarische Ende ist kein tatsächliches, spricht jedoch wieder einmal aus, was zu Beginn bereits formuliert wurde, Trauer und Hoffnung stehen in dichtem Zusammenhang.
Der Choral blieb für Mendelssohn ein wichtiges kompositorisches Element. Im Lobgesang flankiert der Choral 'Nun danket alle Gott' den Sieg des Lichts über die Nacht. Bemerkenswert ist die Art der Choralbearbeitung, die sich auch durch das Gesamtschaffen dieses Komponisten zieht; neben der musikalischen Darstellung im a-cappella-Chorsatz beeindruckt Mendelssohn zum wiederholten Mal durch den einstimmig geführten Chor, der – wie eine Gemeinde – den Cantus firmus singt und sich durch ideenreiche Begleitfiguren im Orchester als goldener Faden zur Choralbearbeitung fügt. Dieses Stilmittel steht nicht nur auf gutem Boden Bach’scher Tradition, sondern führt sie weiter, erfüllt sie mit neuem Leben und Inhalt.
'Alles was Odem hat, lobe den Herrn': wer einmal eine Vulkaninsel besucht hat, kann ermessen, welche Tragweite dieser Satz haben kann. Alle Kreatur atmet und lobt mit der bloßen Existenz den Herrn. Wir können ganz bewusst den Lobgesang anstimmen und wissen uns einig mit der ganzen Kreatur, in deren Mitte wir als Lebewesen mit Bewusstsein gestellt sind.
Diese religiöse Haltung, die als thematische Klammer den Lobgesang umspannt, erhebt globalen Anspruch und macht uns Mut, wach und selbstbewusst unser Leben zu gestalten. Wenn wir Felix Mendelssohn Bartholdy in diesem Jahr gefeiert haben, so können wir bei der Fülle der musikalischen Einfälle für diesen Komponisten nur dankbar sein und getrost in den Lobgesang einfallen: 'Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen.