Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach gehört nicht nur zu den großen Pfeilern der deutschsprachigen Chortradition, sondern zu den großen Monumenten der klassischen Musik schlechthin. Wie etwa Mozarts Zauberflöte, die Neunte Sinfonie von Beethoven oder Wagners Ring-Zyklus gehört sie zu jenen außerordentlichen Werken, die uns als Hörer aus dem Alltag herausreißen und uns latenter innerer Kräfte gewahr werden lassen – Werke, die uns eine Welt außerhalb von Raum und Zeit offenbaren. Fast scheint es so, als hätte es diese Musik schon immer gegeben, als hätte sie nur auf das richtige Ventil in Form eines Komponisten gewartet, um sich so zum unverzichtbaren Teil unseres Lebens zu machen.
Genesis
Eine Tendenz, den Schaffensprozess nachzuvollziehen und verstehbar zu machen, verlockt die musikforschend Spekulierenden zur Legendenbildung und Mystifizierung. Im Falle der Matthäus-Passion jedoch begegnet man solcherlei Umständen, die eine bewusste Selbstdarstellung von Seiten des Komponisten – wie man sie zum Beispiel Beethoven und Wagner unterstellen könnte – schlichtweg nicht zulassen: Es stammt aus der Zeit, als sich Komponisten noch als Handwerker verstanden und lediglich Aufträge erfüllten. Konzipiert wurde das Werk in der Tradition der Passionsspiele. In der Karwoche war es die Pflicht eines Leipziger Thomaskantors, entsprechend der Liturgie die passende Passionsmusik zu komponieren, gipfelnd im Karfreitagsgottesdienst. Schon damals sprengte Bach den vorgesehenen Rahmen und geriet an die Grenze des Aufführbaren. Die 2,5-stündige Musik wurde nicht wie heute an einem Stück mit möglicher Pause aufgeführt, sondern von Predigten und Andachten im Gottesdienst begleitet, in Kombination mit weiteren musikalischen Darbietungen. Bach musste für seine Herangehensweise an das Format heftige Kritik einstecken: Aufgrund der opernhaften Dramatik wurde dem gottesfürchtigen Protestanten Blasphemie unterstellt. Zu seinen Lebzeiten konnte Bach das Werk nur noch zwei weitere Male zur Osterzeit aufführen, bevor es vorübergehend in Vergessenheit geriet.
Auferstehung
Tatsächlich war Bachs Musik nicht voll und ganz vergessen. In gewissen Kreisen war der Name Bach durchaus ein Begriff. Nicht nur Beethoven und Schumann bezogen sich direkt auf ihn. Allerdings wurde sein Werk nur limitiert geschätzt – am meisten seine Orgel- und Klavierwerke, so auch die Pionierarbeit zur Harmonik und die Studien zum Kontrapunkt. Gerade in Berlin, Wahlheimat des hoch geschätzten Bach-Sohns Carl Philipp Emanuel, schien auch der Geist vom Vater Bach zu wirken. So gibt es Dokumente, die belegen, dass zumindest Teile der Matthäus-Passion um 1770 in Berlin im Umlauf waren und womöglich von einem gewissen Holstein in der Musikübenden Gesellschaft geprobt und aufgeführt wurden. Auch in Hamburg war das Werk im Umlauf und wurde wahrscheinlich ausschnittsweise dargeboten. Allgemein galt Bachs Musik derzeit aber als altbacken und unzeitgemäß.
Die Legende um die Wiederentdeckung der Matthäus-Passion lautet in etwa so: nach einhundert Jahren im Dornröschenschlaf kramte Felix Mendelssohn Bartholdy, mit hilfreicher Unterstützung vom geschätzten Goethe-Brieffreund Carl-Friedrich Zelter und dessen Berliner Singakademie, jenes Oratorium aus den Archiven, führte es im März 1829 zum ersten Mal wieder auf, erntete strömenden Beifall, und Bach war von nun an wieder in aller Munde. Nun gibt es aber recht wenig Hinweise darauf, dass Zelter seinen 20-jährigen Schützling zu der Aufführung ermutigte und sich von Anfang an voll und ganz hinter Mendelssohns Vorhaben stellte. Wenn man sich die Briefwechsel, Dokumente und Zeugenaussagen der Zeit ansieht, stellt man eher das Gegenteil fest. Die Aufführung ging auf Mendelssohns eigene Initiative zurück. Ja, er hatte enthusiastische und einflussreiche Unterstützer: darunter Musikwissenschaftler und Komponist Adolph Bernhard Marx, der die Realisierung der Aufführung enthusiastisch begleitete, sowie Mendelssohns Freund Eduard Devrient, Bassbariton an der Hofoper und Sänger in der Rolle des Jesus in der Wiederaufführung.
Zelters Enthusiasmus hingegen war eher verhalten. Er hatte zwar immer wieder Stücke von Bach in sein Programm für die Singakademie aufgenommen – Kantaten, Motetten sowie einzelne Stücke aus der h-Moll-Messe und eben aus der Matthäuspassion. Das gesamte Werk galt ihm aber als unaufführbar und nach eigenen Worten sogar als „borstig“. Mendelssohn musste für die Miete des Saals der Singakademie (das heutige Maxim-Gorki-Theater) selbst aufkommen und die Proben im privaten Kreis unabhängig von denen der Singakademie veranstalten. Nur etwa ein gutes Drittel der teilnehmenden Sänger war überhaupt Mitglied der Singakademie. Um das Werk aufführbar zu machen, musste Mendelssohn viele Kompromisse eingehen. So konnte er für das Orchester nur Laien gewinnen, mit Unterstützung von einzelnen Profimusikern aus der Hofkapelle. Da die Honorare der teilnehmenden Musiker und Sänger die Kosten ansonsten ins Untragbare getrieben hätten, fand das ganze Projekt unter dem Vorwand eines wohltätigen Zweckes statt.
Hindernisse und Hürden
100 Jahre sind nicht nur in der Musikgeschichte ein langer Zeitraum. Es war nicht ohne weiteres möglich, dieses vergessene musikalische Monument aus der Bibliothek heraus zu suchen und ganz so wie zuvor aufzuführen. Allein bei der Frage, woher Mendelssohn die Partitur erhalten hatte, deuten die Hinweise in verschiedene Richtungen. Zelter hatte zwar Zugang zu einer Partitur in der Bibliothek der preußischen Prinzessin Anna Amalia, dass er dieses Unikat aber ohne Weiteres an einen seiner Schüler weitergegeben hat, ist zu bezweifeln. Betrachtet man nämlich die noch erhaltene Aufführungspartitur Mendelssohns, verweist diese eher auf die eigene Familie und deren Bekanntenkreis als Herkunft. Die Familie Mendelssohn genoss hohes Ansehen in der preußischen Hauptstadt. Ein Bekannter der Großmutter Bella Salomon hatte wohl ausgeholfen: der Sammler Georg Poelchau, der im Besitz eines Autographs war. Poelchau wurde wohl dazu bewegt, eine Abschrift zu erlauben, die dann unter anderem vom befreundeten Geiger Eduard Rietz getätigt wurde. Der junge Felix bekam diese Abschrift von seiner Großmutter zu Weihnachten geschenkt.
Beim Studieren der Partitur musste das Wunderkind feststellen, dass das Werk sich kaum zu den Bedingungen, wie sie aus der Partitur abzulesen waren, aufführen lassen würde. Werkuntreue kann man Mendelssohn kaum vorwerfen, dennoch unterschied sich die Wiederaufführung erheblich von barocken Bedingungen. Es gab damals keine historische Aufführungspraxis, auch wenn jenes Projekt durchaus als früher Vorreiter dieser Bewegung gelten darf – in Anbetracht der Mittel, die zur Verfügung standen. Nicht nur verstand man die Matthäus-Passion aufgrund ihrer Länge als unzumutbar, auch entsprachen einige Texte nicht mehr dem Zeitgeist. Noch heute wirken Bezeichnungen wie „süßes Kreuz“ oder „selige Gebeine“ mitunter befremdlich und wurden erst durch die Kanonisierung von Bachs Chorwerken in Verbindung mit wunderschönen Arien akzeptiert. Was die Instrumentierung und die Stimmenverteilung betrifft, sah sich Mendelssohn vor solche Herausforderungen gestellt, dass der junge Komponist oft zur nächstbesten Lösung griff.
Das Ergebnis der Überarbeitung führte zu einem Kompromiss, der dennoch die Essenz und die Botschaft der Musik beibehielt. Mendelssohn legte großen Wert auf eine schlüssige Dramatik. Es wurden einige Arien und Rezitative gekürzt, oder sogar ganz herausgenommen. Es ist bezeichnend, dass die Stimme von Jesus die einzige ist, die nicht gekürzt wurde. Die Rolle des Chors wurde, gerade durch die Kürzungen der Solopartien, hervorgehoben, auch wenn der ein oder andere Choral gestrichen wurde. Auch an der Harmonik einiger Schlussakkorde wurden Veränderungen vorgenommen, um die Übergänge zwischen den einzelnen Stücken geschmeidiger zu gestalten. Weitere Kompromisse mussten in der Instrumentierung gemacht werden. Vergeblich suchte Mendelssohn nach einer „Oboe d’amore“ oder einer „Oboe da caccia“, so dass stattdessen Klarinetten eingesetzt wurden. In den Arien kam es teilweise zum Tausch der Stimmlagen: Vorherige Sopranarien wurden nun vom Alt gesungen und umgekehrt. Die Konzertleitung durch Mendelssohn fand nicht wie ursprünglich von der Orgel aus statt, dazu musste ein Flügel dienen – unbekannt ist, ob es sich um einen Hammer- oder einen Kielflügel handelte. Dass Mendelssohn trotzdem an einer Barock-treuen Interpretation gelegen war, sieht man in seinen Anmerkungen, die Artikulation, Tempi und Verzierungen betreffend. Dort ist der Versuch erkennbar, den Klang und die Dynamik systematisch an das damalige Verständnis der Ästhetik der Barockzeit anzupassen.
Die erste Wiederaufführung am 11. März 1829 war ein unerwarteter Erfolg. Wie sagte der dichtende Brieffreund Zelters aus Weimar so schön, als jener ihm von Berlin von dieser Aufführung berichtete: „Es ist mir, als wenn ich von ferne das Meer brausen hörte.“ So wurde eine ganze Welle von Aufführungen ausgelöst. Anfangs in Berlin: Wenige Tage nach der Erstaufführung wurde das Konzert wiederholt, da bei ersterer die Kapazitäten für den Ansturm an Besuchern nicht ausreichten. Als Mendelssohn kurz danach nach England reiste, übernahm Zelter persönlich die Leitung der Wiederaufführungen und erhielt so letztendlich Anteil an der erfolgreichen Arbeit Mendelssohns. Das Werk wurde bald in anderen deutschen Städten aufgeführt, von Frankfurt bis Breslau, Stettin und Dresden, bis es mit einer Aufführung im Jahr 1841 wieder zur musikalischen Heimat Bachs (und später auch Mendelssohns) nach Leipzig in die Thomaskirche zurückkehrte. Die Mission der Wiederbelebung war vollbracht.
Die Rückkehr Bachs
Es dauerte nicht lange, bis die Aufführungsroutine sich der neu aufkommenden Beliebtheit Bachs anpasste und das zuvor meistgespielte Passionsoratorium Der Tod Jesu von Carl Heinrich Graun in Berlin einen ernstzunehmenden Konkurrenten erhielt. Doch nicht nur die Matthäus-Passion, auch die vermehrten Aufführungen der Johannes-Passion und des Weihnachtsoratoriums – nicht zu vergessen die zahlreichen Kantaten und Motetten – wurden Ausdruck einer erneuten Zuwendung zum Giganten des Barockzeitalters. Das gesamte Oeuvre Bach wurde einer Revision unterzogen. Viele bis dato unbekannte Stücke wurden wiederaufgeführt, neue Werkausgaben kamen in den Druck – eine Bewegung, die heute als Bach-Renaissance bezeichnet wird und die sich im postmodernen Zeitalter im Zusammenhang mit der historischen Aufführungspraxis und einer nicht zur Ruhe kommenden Bach-Forschung immer wieder neu erfindet und fortschreitet.
Wie hat gerade Bach es geschafft, sich so in den Kirchen und Konzerthäusern zu etablieren? Wie kann es sein, dass ein zu damaligen Zeiten als archaisch eingeschätzter Stil sich hundert Jahre später wieder entfaltet und bis heute das Publikum in neuen Interpretationen und reflektierten Inszenierungen begeistert? War Bach seiner Zeit voraus? Kaum ein anderer Komponist hat das deutschsprachige Chorrepertoire so bereichert wie Bach mit seinen „Großprojekten“. Allein Mendelssohn konnte mit seinen beiden großen Oratorien Elias und Paulus einen vergleichbaren Status erlangen. Hier scheint die Sprache eine wesentliche Rolle zu spielen: Mit protestantischer Bescheidenheit und Simplizität schaffen die Texte des Librettisten Picanders mit den Zitaten aus der Bibel eine sehr intime aber leicht nachvollziehbare Kommunikationsebene, so dass selbst kirchenfremde Besucher an die essentielle Bedeutung der beschriebenen Ereignisse erinnert werden. Wesentlich für den Erfolg ist Bachs anspruchsvolle Musikalität: die abwechslungsreiche Gestaltung des Werks, welche die Hörer vom fesselnden Eingangschor an die beschriebenen Geschehnisse in allen Gefühlslagen durchleben lässt.
Die Botschaft
Was hat die Geschichte der Kreuzigung in einem Zeitalter der Säkularisierung und des gnadenlosen Materialismus überhaupt noch für eine Bedeutung? Erscheint eine so bildlich-brutal dargestellte und symbolisch belastete Prozession wie die Kreuzigung für zynische Analytiker nicht schlechthin abstrus und widersprüchlich? Manche Stimmen verweisen vielleicht gar auf Schuldkomplexe und Masochismus, bevor sie eine inspirierende Deutung zulassen. Die Faszination um die Matthäus-Passion nimmt jedoch nicht ab. Jährlich strömen die Menschen in die Kirchen und Konzerthäuser, um das Leid Jesu auf künstlerische Weise vermittelt zu bekommen. Vielleicht gibt es doch noch ein selten gestilltes Bedürfnis, auch dem Unbeschreiblichen seinen Platz lassen. In der Tat ist für viele Menschen gerade in den heutigen Zeiten die Musik noch eine der wenigen Verbindungen zu einer spirituellen Ebene. Eine Ebene, die den Menschen zu sich selbst und seiner Rolle in der sichtbaren und unsichtbaren Welt zurückwirft.
Die Matthäus-Passion tut mehr als die hörenden Zeugen ins Staunen zu versetzen. Sie lässt die Hörer ihrer eigenen Rolle im Großen und Ganzen gewahr werden. Gerade hier sei die Funktion des Chors hervorgehoben: Kein Chor wie man ihn von der griechischen Dramatik her kennt – einer der die Ereignisse beschreibt und kommentiert. Sondern ein aktiver Chor, der die Rolle des Volkes einnimmt, die Handlung vorantreibt und entscheidender Teil eben dieser ist. Der Chor wird Mittler zwischen Publikum und Werk. Die Hörer werden durch den Chor mit zur Verantwortung gezogen. Jeder zuhörende Mensch weiß um das Ende der Passionsgeschichte und wird sich vielleicht auch gewahr, was es heißt, diese Verantwortung zu tragen – wenn nicht im religiös-spirituellen Bereich, dann zumindest im zwischenmenschlichen und sozialen Kontext. Zur Zeit der Kreuzigung wie auch heute ist es die Masse, die den Hergang der Dinge lenken kann. Eine Masse besteht aus Individuen, und Individuen können sich entscheiden. Sie entscheiden, ob sie auf eine erneute Tragödie zusteuern wollen oder sich auf eine von Jesus vorgelebte Rückbesinnung zu Werten wie Demut, Barmherzigkeit und Nächstenliebe einlassen. Diese Musik offenbart uns, welche möglichen Konsequenzen unsere Entscheidungen haben.