Haydns wohl populärstes Oratorium entstand zwischen 1796 und 1798 und knüpft an die englische Tradition der großen Oratorienaufführungen an. Die Bezugnahme auf die Werke Händels ist dabei offenkundig und sollte von vornherein auch so verstanden werden. Das Libretto eines uns unbekannten Dichters basiert auf der biblischen Genesis und konzentriert sich auf den Bericht über die sechs Schöpfungstage. Es widmet auch dem Geschöpf Mensch eine ausgiebige Betrachtung. Sie suggeriert den Eindruck eines eigenen, siebten Schöpfungstages und verbindet den göttlichen Ruhetag gleichsam mit einer Feier der Geburt des Menschen. Diese Darlegung ist Gipfel und Abschluss der Schöpfung und beschwört zugleich den Zustand der Unschuld im Paradies. Ende gut, alles gut!?
Weil das Oratorium die allgemein vorhandene Kenntnis vom Fortgang des weiteren biblischen Geschehens voraussetzt, kann es problemlos auf den Blick nach vorne verzichten. So verharrt das Werk Haydns im Rausch der jubelnden Lobpreisung und erkennt darin eine wesentliche menschliche Bestimmung: „Nun ist die erste Pflicht erfüllt, dem Schöpfer haben wir gedankt.“ Erst nach der Rezitativ-Einleitung wendet sich Adam seiner Gefährtin zu, damit beide in Gemeinsamkeit die ‚Seligkeit des Lebens’ finden mögen, um schlussendlich in den Lobgesang der ‚himmlischen Heerscharen’ einzufallen. Die Lobeshymne charakterisiert alle Chöre des Werkes gleichsam und lässt sich von Beginn an wie ein roter Faden der Komposition ausmachen.
Die ‚himmlischen Heerscharen’ übernehmen als Chor der Engel neben der ‚Verherrlichung Gottes’ auch die Kommentarfunktion des antiken Theaters. Damit bleibt das Oratorium stilistisch in der Ästhetik seiner Zeit verankert und verknüpft ganz selbstverständlich die eigenen Ideale mit der Tradition des klassischen Altertums. Zugleich postuliert es die Vollkommenheit der Form als höchste Maxime der Kunst. Diese demonstriert die architektonische Harmonie im Wohlmaß, durchschreitet aber überdies verschiedene Gedankenprozesse, die als dialektische Prinzipien im Aufbau des Werkes walten und sich in musikalischen Strukturen manifestieren. Die klassisch-humanistische Ästhetik dieser Epoche bleibt stets gegenwärtig, auch wenn die verbürgte religiöse Haltung Haydns den Pfad der Aufklärung zu verlassen scheint: „Ich war auch nie so fromm, als während der Zeit, da ich an der Schöpfung arbeitete; täglich fiel ich auf meine Knie nieder und bat Gott, dass er mir Kraft zur glücklichen Ausführung dieses Werkes verleihen möchte.“
So wird Haydn von seinem ersten Biographen G. A. von Griesinger (1769- 1845) zitiert.
Die wahrscheinlich authentische Aussage Haydns muss vor dem Hintergrund einer Epoche verstanden werden, die zwar als Zeit der Aufklärung und der Klassik in die Geschichte einging, sich aber de facto viel diverser gestaltete, als vereinfachende Darstellungen glauben machen. Die Uraufführung der ‚Schöpfung’ im April 1798 wäre ohne die finanzielle und ideelle Unterstützung einer aristokratischen Vereinigung nicht zustande gekommen. Der künstlerische Leiter derselben war Gottfried van Swieten, ein Logenbruder Haydns, zugleich Freund, Gönner und geistiger Begleiter sowie möglicherweise auch Mitautor des Librettos.
Eine abwägende Bewertung der weltanschaulichen Diversität des Komponisten Haydn, der es sich leisten konnte, vernunftbasiert, freigeistig, aber gleichzeitig auch religiös zu denken und zu empfinden, bedarf einer differenzierten Analyse vor dem Hintergrund seiner Epoche. Freimaurerloge, Humanismus und klassizistisches Ideal prägten das geistige Umfeld der Gesellschaft Haydns, die Wiege seiner Kompositionen und müssen von Zuhörenden zum Verständnis seiner Werke grundlegend mitgedacht werden. Eine künstlerische Abgrenzung vom christlichen Glauben dieser Zeit war von einem Komponisten kaum zu erwarten. Allein schon die praktische Ausübung der Kirchenmusik – und darauf waren fast alle Musiker dieser Zeit angewiesen – sprach gegen eine explizite Distanzierung.
Es schien daher damals auch aus künstlerischer Sicht plausibel, weltanschauliche Differenzen einvernehmlich zu lösen.
Heute hingegen lässt sich eine Konfrontation wagen – eine Gegenüberstellung mit ganz und gar nicht religiös formulierten Fragen zum Thema Gott und Schöpfung aus der Position der sich mit der Aufklärung formierenden Agnostik heraus. Dies kann nützlich sein, um einige Debatten im Aufbruch dieser Epoche zu verdeutlichen.
Ein gutes Beispiel ist Voltaires Auseinandersetzung mit Gottfried Wilhelm Leibniz, einem wichtigen Vordenker der Aufklärung. Candide verwirft in der 1759 erschienenen satirischen Novelle (Candide ou l’optimisme) des französischen Philosophen die Idee der weisen göttlichen Vorhersehung im Leibniz-Modell als ‚der besten aller möglichen Welten’. Er stellt den Thesen einen kategorischen Aufruf gegenüber: „Wir müssen unsern Garten bestellen!“ Dafür ‚setze Gott den Menschen in den Garten Eden’, ein Konzept, das weitreichende Folgen in der Einstellung zur Schöpfung und zu Gott nach sich zieht.
Wie kann man sich einen ‚Dialog’ zwischen Haydn und Voltaire wohl vorstellen? In einem Punkt könnten sich der Komponist und der Dichter und Denker treffen: Der Mensch als vernunftbegabte Kreatur hat eine besondere Stellung in der Welt; dieses Wesen kann gestalten, kann agieren, hat die Möglichkeiten zu entscheiden, aber auch die Verantwortung für alles, was es tut.
Ohne den Menschen, so suggeriert es die Komposition Haydns, gäbe es niemanden, den Schöpfer zu preisen. Deshalb vereint der eigentlich als göttliche Ruhezeit proklamierte 7. Tag Gottes Ruhegebot mit dem Lob und Dank für die Schöpfung; beidem kann allein der Mensch als Spiegelbild Gottes einen adäquaten Ausdruck verleihen.
Den triumphalen Höhepunkt bilden ‚Lob, Ehre und Preis’ des Schöpfers einerseits, aber auch die Hymne auf das ‚Wunderwerk’ seiner Schöpfungstat andererseits. Die Krone der Schöpfung wird zum Ideal der Kreaturen. Humanismus und Bibel verschmelzen hier fast unbemerkt und entlassen das Publikum mit einer Vision, die im biblischen Verständnis nicht notwendigerweise mitgedacht ist. Die Vertreibung aus dem Paradies, die Versuchung durch die Schlange, die Erzählung vom Baum des Lebens und der Erkenntnis, die Einsicht, unbekleidet und schutzlos ausgeliefert zu sein, werden konsequenterweise nicht vertont. Lediglich im Schlussrezitativ gibt es einen Hinweis an Adam und Eva: „O glücklich Paar, und glücklich immerfort, wenn falscher Wahn euch nicht verführt noch mehr zu wünschen, als ihr habt, und mehr zu wissen, als ihr sollt!“ Hier blitzt ganz kurz ein Gedanke an Schuld und Verantwortung des Menschen auf.
Auch wenn das Oratorium freudig und hoffnungsvoll schließt, wissen wir: Der Hinweis aus dem Rezitativ wurde von uns nicht berücksichtigt, denn falscher Wahn hat uns im Lauf der Menschheitsgeschichte sehr oft verführt, immer mehr zu wünschen, als wir eigentlich haben.
Indes bleibt der Verweis auf die Frucht der Erkenntnis vage: Was sollen wir nicht wissen? Und warum sollen wir uns in unserer Neugier im Umgang mit unserer Welt beschränken? Dass hier Aspekte der fortlaufenden biblischen Erzählung angedeutet und nicht moralisch fragwürdige Gebote aufgerufen werden, erschließt sich dem Publikum nach fast 250 Jahren nicht zwingend. Bibelwissen ist nicht mehr selbstverständlicher Teil im Bildungsfundus unseres Alltags. Natürlich aber kannten die Zeitgenossen Haydns die Geschichte vom Sündenfall. Sie wussten, dass die Idylle im Garten Eden ein jähes Ende finden würde.
Vielleicht brauchen wir heute einen Gegenpart, weil uns die Schöpfungsgeschichte längst nicht mehr umfassend präsent ist. Die dunklen Seiten unserer Welt, die Fragen nach der menschlichen Verantwortung oder globalen Unverantwortlichkeit im Umgang mit unserer Erde und das durch Menschen tagtäglich verursachte Leid verlangen einen notwendigen – im Bewusstsein der Geschichte der Aufklärung fundierten – Aufruf zu vernünftigem Handeln. Und vielleicht benötigt dies sogar die Intervention des Undankbaren.
Unser Konzept besteht in der Möglichkeit einer Präzisierung für uns als Nachgeborene. Die ‚Schöpfung’ kann man – wie schon lange üblich – in historischer Aufführungspraxis wie ein Exponat in einem Museum präsentieren. Das schafft Distanz und ermöglicht einen nüchternen, aber ehrlichen Einblick. Das Rollenverständnis von Frau und Mann, welches Haydn brav vertonte und das vom historisch gewachsenen Menschenbild im christlichen Abendland hergeleitet wurde, ist für heute jedoch glücklicherweise nicht mehr vermittelbar. Wir sind gehalten, entweder Stellung zu beziehen oder auf den historischen Kontext zu verweisen. Eine andere seriöse Option gibt es nicht.
Auch hier gilt: Die Konfrontation mit neuen, musikalischen Stilmitteln zerstört die Größe des Werkes nicht (warum auch?), ermöglicht aber den immer wieder frischen, auditiven Höreindruck des Bekannten. Vielleicht eröffnet sie gerade dadurch sogar mögliche neue Perspektiven auf ein Werk, das wir lange kennen und lieben, aber doch aus Gewohnheit gerne an uns vorbeiziehen lassen.
Im Angesicht der Probleme, die wir alle kennen, erscheint es unangemessen, Ihnen heute ein „Plastikblumengebinde“ zu überreichen. Wir wollen die Musik frisch und lebendig präsentieren, dafür wählen wir heute eine von vielen denkbaren Optionen.
Zum anderen stellt sich eine zweite Frage: Kann man heute das Loblied auf unsere Erde, so man will „die Schöpfung“, gelassen goutieren und vom Konzertsaal ungerührt mit nach Hause nehmen?
Gestatten Sie uns deshalb, Ihnen einige Zweifel mit auf den Weg zu geben. Beispielsweise sechs Sätze einer symphonischen Komposition, die rein dramaturgisch auch für sich genommen musiziert werden können, in unserem Fall jedoch mit der ‚Schöpfung’ verschränkt werden, sich kontrastierend ergänzen.
Die neue Komposition ‚Ein Sündenfall‘ konzentriert sich daher auch auf all jene Aspekte, die ganz und gar nicht geeignet sind, die fröhliche Schöpfung mit Lob zu besingen und den Schöpfer zu preisen. Sie fokussiert eher die dunklen Seiten unserer Welt und nimmt den Menschen in die Pflicht, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Der erste Satz Katharsis beginnt als Reinigungsprozession, bevor die Klage – als Vertonung der Verse von Voltaire zum Erdbeben in Lissabon – die drastische Schilderung einer Naturkatastrophe einleitet.
Im dritten Satz wird schließlich zur Verantwortung menschlicher Schuld übergeleitet und unter dem Titel ‚Brüder im Nebel’ (der Aktenvemerk Kardinal Meisners zum Missbrauchsskandal der katholischen Kirche) die beispiellose Geschichte der Vertuschung von Verbrechen und Verharmlosung von Gewalt gegen Mitmenschen problematisiert.
Im Dies irae wird die Reflektion zu Krieg und Gewalt thematisiert; die Mobilmachung Kaiser Wilhelms zu Beginn des Ersten Weltkriegs steht hier als ein Beispiel für menschliche Abgründe, die im vergangenen Jahrhundert Katastrophen ausgelöst haben und die uns auch heute leider wieder sehr aktuell beschäftigen.
Man könnte einwenden, dass diese Themenbereiche nicht viel mit dem Klimawandel zu tun haben, der mit dem Gedanken „Umgang mit der Schöpfung“ einhergeht. Ich denke hingegen, dass die unverantwortliche und fortgesetzte Gewalt gegen Menschen auch Rückschlüsse auf unser Umweltbewusstsein zulässt, man denke an die Wechselwirkungen innerhalb unserer heutigen Klima- und Energiekrise.
Im Ritus wird das Thema eines Reinigungsrituals aus dem ersten Satz wieder aufgegriffen, Verse aus Voltaires Candide rufen uns zur direkten Verantwortung. Die Vorlagen zur Vertonung entstammen deutschen Übersetzungen, die zeitlich sehr nah am Original verortet sind.
Den Abschluss des ‚Sündenfalls’ bildet ein Instrumentalsatz: Die Elegie ist mit offenem Ende gestaltet, verzichtet auf eine Vision mit Happy End, entlässt aber die Zuhörenden nicht in düsterer Hoffnungslosigkeit. Noch ist eben die Geschichte der Schöpfung nicht zu Ende erzählt.