„Die Reformations-Symphonie kann ich gar nicht mehr ausstehen, möchte sie lieber verbrennen als irgend eines meiner Werke; soll niemals herauskommen…..“ so schrieb Felix Mendelssohn Bartholdy am 11. Februar 1838 an den befreundeten Julius Rietz, der das Werk -wenn auch nicht unter dem heute bekannten Titel- in einer zweiten Aufführung zu Lebzeiten Mendelssohns am 7. Dezember 1837 in Düsseldorf dirigiert hatte.
Erst 1868 wurde die Reformations-Sinfonie gedruckt, weshalb wir sie heute als 5. Sinfonie mit dem Zusatz „op. 107“ kennen. In der chronologischen Abfolge der Entstehung muss das Werk jedoch als 2. Sinfonie angesehen werden.
Wir können davon ausgehen, dass Julius Rietz als Nachlassverwalter Mendelssohns den Willen des Komponisten respektieren wollte und um die Gründe der Skepsis diesem Werk gegenüber im Bilde war, als er sich entschloss, die in Rede stehende Sinfonie so lange zurückzuhalten, bis er dem Drängen der Erben doch endlich nachgeben musste, wofür wir ihm letztlich dann doch sehr dankbar sind. Was war geschehen?
Felix Mendelssohn Bartholdy hatte im Winter 1829/1830 seine Reformations-Sinfonie ohne jeden Auftrag, aber aus Anlass einer bevorstehenden 300-Jahr-Feier der Augsburger Konfession, komponiert.
Die geplanten Feierlichkeiten in Berlin wurden infolge der befürchteten Ausweitungen der französischen Julirevolution von 1830 jedoch abgesagt, da es zu verschiedenen Unruhen in Staaten des Deutschen Bundes bereits gekommen war. Die – leider erfolglose – Uraufführung konnte am 15. November 1832 unter Leitung des Komponisten in Berlin nachgeholt werden.
Wie aus Briefen zu erkennen ist, hatte Mendelssohn eine programmatische Idee zu dieser Kirchensinfonie: Der erste Satz beginnt in der Einleitung mit einem Motiv, dass ein gregorianisches Magnificat andeutet, jedoch nicht im 9. Psalmton, der von Luther für das deutsche Mariengebet verlangt wurde, sondern im 2. Psalmton des lateinischen Originals. Die Tonart des Psalmtons ist hyperdorisch und somit der Grundtonart der Sinfonie d-moll auffallend verwandt. Nicht das Zitat an sich ist jedoch entscheidend. Vielmehr beschwört das Anfangsmotiv eine mystische Klangsprache, die einer Reihe von Katholizismen des ersten Satzes zuzurechnen ist. Das sehr viel eindeutiger zitierte Dresdner Amen gesellt sich zu diesen katholischen, mystischen Motiven. Johann Gottlieb Naumann (1741- 1801) hat die mehrstimmig gesetzte Antwort des Chores innerhalb der Liturgie der Messen für die katholische Hofkirche in Dresden geschrieben. Aus der Tradition heraus erhielt dieses Liturgiefragment seinen heute bekannten Namen. Da es sich um ein oft verwendetes Zitat handelt, ist es in der Musikgeschichte zu Ehren gekommen. Richard Wagner machte es zum Grals-Motiv im Parsifal, zitierte es jedoch auch im Liebesverbot und im Tannhäuser.
Gustav Mahler erinnert im Finale seiner 1. Sinfonie an dieses Motiv, zieht damit jedoch eine Verbindung zum Parsifal. Selbst in der Filmmusik aus jüngerer Zeit findet es sich als Kleinod wieder, Klaus Doldinger verwendete es für Das Boot. Mahlers Wagner-Affinität ist weithin bekannt. Die nahezu identische musikalische Gestalt im ersten Satz der Reformations-Sinfonie im Vergleich zum Parsifal ist hingegen überraschend und unüberhörbar. Das mag auch ein Fingerzeig sein für die mangelhafte deutsche Rezeption dieser Sinfonie in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Als ausgewiesener Mendelssohn-Verächter hätte Richard Wagner möglicherweise die „abgelauschte“ Art des Zitierens nicht so unverhohlen und großzügig seinem Publikum dargeboten, das eine Parallele leicht hätte ziehen können.
In England jedoch wurde die Reformations-Sinfonie zu dieser Zeit bereits mit großem Erfolg oft gespielt.
Wolfgang Dinglinger beschreibt in seinem Artikel „Die Grundgedanken sind mehr durch das, was sie bedeuten, als an und für sich interessant“, Anmerkungen zum Programm in Mendelssohns op.107 (in Festschrift für Hartmut Fladt, UDK, Berlin /Würzburg 2005) das Problem der kompositorischen Umsetzung einer dem Werk immanenten konzeptionellen Idee des Komponisten. Die Sinfonie ist keine Programmmusik im eigentlichen Sinne, denn es gibt keine außerhalb der Musik liegende Handlung, die sich ohne eine Erläuterung vermittelt. Im Werk selbst findet sich auch keine klare Vorstellung zum Thema Reformation, die sich in musikalischer Gestalt deutlich vermittelt, die Programmbezüge sind nicht zwingend.
Mendelssohns Freund, Bernhard Marx hatte die Berliner Aufführung der 9. Sinfonie Beethovens in einem Artikel ausführlich eingeführt. Wie Judith Silber in ihrer Veröffentlichung Mendelssohn and the Reformation Symphony (Baltimore 1987) und Wolfgang Dinglinger belegen, bezieht sich Mendelssohn auf das Modell der 9. Sinfonie von Beethoven und knüpft an die Werkanalyse des Artikels von Bernhard Marx an, inspiriert vom Wunsch, dieses Modell fortzuschreiben. In der Analyse und dem Vergleich der jeweils ersten drei Sätze werden von Silber und Dinglinger wichtige Übereinkünfte beider Werke offen gelegt. Besonders bemerkenswert ist, dass Mendelsohn zwischen dem 3. und 4. Satz ursprünglich ein verbindendes, instrumentales Rezitativ schuf, das später jedoch gestrichen wurde. Hier werden die Parallelen zum Finale der großen Beethoven-Sinfonie am deutlichsten. Marx analysiert und interpretiert Beethoven aus dem Moment seines Rezitativs, das hier allerdings vom Bariton intoniert wird, heraus und konstatiert damit die Grundidee der ganzen Sinfonie-Kompositionsstruktur, die von diesem wichtigen Detail, diesem musikalischen Einfall ausgeht. Er erkennt Beethovens Kampf und Sieg, im Bestreben „neue Reiche dem menschlichen Geiste zu öffnen und zu erwerben“. Die Authentizität verweigert sich jedoch dem Versuch Mendelssohns, das Verfahren formal zu kopieren. Marx lässt in seiner Schrift erkennen, dass eine Adaption nicht gelingen kann, wenn der leidenschaftliche Kampf um die Realisation der Idee nicht persönlich ausgefochten wird. Beethovens humanistischer Kampf ist ein authentischer, Mendelssohns Anstrengungen hingegen bemühen sich darum, nicht autobiographisch missverstanden zu werden. Die Programmbezüge versuchen den Weg Beethovens zu beleben. Die Übertragung der humanistischen Idee auf die Entwicklung und Bedeutung der Reformation bleibt jedoch theoretisch, und der Kampf Mendelssohns wird nicht persönlich oder authentisch ausgetragen. Da bleibt das besonders herausgestellte Zitat des Luther-Chorals am Anfang des Finales eine Erklärung schuldig.
Die Flöte beginnt solistisch mit dem Choral „Ein feste Burg“ (nach verschiedenen Überlieferungen soll Martin Luther auch Flöte gespielt haben, das wird aber sicher nicht der wichtigste Punkt in der Entscheidung der Besetzung gewesen sein), im weiteren Verlauf des Satzes wird der Choral in unterschiedlichen Varianten verarbeitet, als Choralbearbeitung kontrapunktisch im Stile Bachs aufbereitet und in verschiedene musikalisch thematische Zusammenhänge gestellt. Diese kompositorische Arbeit ist ohne jeden Zweifel meisterhaft gefertigt, verrät obendrein den außerordentlich gebildeten Musiker, den überaus geschickten Tonsetzer und genialen Sinfoniker, der sein Konzept der Kontraste mit Leichtigkeit umzusetzen vermag und zugleich feurig und leichtfüßig eine umfassende Themenwelt präsentiert. Dennoch fehlt dem Werk die Bestimmtheit und Verständlichkeit aus sich heraus, die der Komponist nach späterer Überzeugung nicht mehr akzeptieren konnte.
„Die Grundgedanken in meiner Reformationssymphonie sind mehr durch das, was sie bedeuten, als an und für sich interessant. Beides muss sich verbinden und verschmelzen.“
Die Bedeutung des Grundgedankens ist letztlich eine politische Dimension, die der späteren Periode in der Amtszeit des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV sehr gut zu Gesicht gestanden hätte, denn das religiös-dogmatische – oder besser gesagt ideologisch-politische – Selbstverständnis hätte eine Musik mit den beabsichtigten programmatischen Bezügen, wie beschrieben, gut gebrauchen können. Insofern ist es durchaus einem glücklichen Schicksal geschuldet, dass sich Mendelssohns Reformations-Sinfonie der Parteinahme und Instrumentalisierung entzieht oder erst gar nicht anbietet. Doch darauf soll später noch einmal eingegangen werden.
Die Festouvertüre
Otto Nicolai ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Zeitgenosse Mendelssohns. 1810 in Königsberg geboren, erhielt er seine Ausbildung unter anderem in Berlin, mit 17 Jahren begann er das Studium am Königlichen Institut für Schul- und Kirchenmusik, man mag es mir nachsehen, dass ich auf diese Station mit besonderem Stolz verweise.
Durch seine Mitgliedschaft in der Sing-Akademie zu Berlin lernte er auch die Familie Mendelssohn kennen.
1833 wurde Nicolai Organist an der Preußischen Gesandtschaftskapelle in Rom, diese Stelle gab er jedoch nach drei Jahren auf und erteilte Klavierunterricht. Als Gelegenheitskomposition und ohne direkten Anlass entstand eine Ouvertüre über den Luther-Choral „Ein feste Burg“, diese Komposition durchlief nun sehr viele unterschiedliche Entwicklungsstufen. Am Ende war es eine „Fugirte Ouvertüre, im Styl des 18. Jahrhunderts nach deutschen Studien“.
Als Kapellmeister in Wien konnte Otto Nicolai die Ouvertüre zum wiederholten Male und mit großem Erfolg dirigieren und sandte eine Partiturabschrift an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. Dieser bedankte sich mit der Übersendung einer goldenen Medaille und verwahrte die Noten in der Königlichen Hausbibliothek im Berliner Schloss. Den Noten wurde hierzu ein gedrucktes Titelblatt beigefügt: Protestantische Kirchen-Ouvertüre über den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“.
Die eigentlich Absicht Nicolais, sich beim König um eine attraktive Stellung zu bewerben, war jedoch noch nicht erreicht.
1844 reiste er auf Einladung seiner Heimatstadt nach Königsberg, um an den Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag der Gründung der Albertus-Universität musikalisch mitzuwirken. Auch hier wurde die Kirchliche Festouvertüre gespielt. Die Hoffnung, der König würde anwesend sein, wurde jedoch enttäuscht. Dafür ergab sich nun noch im selben Jahr die Gelegenheit, bei einem Konzert mit der Königsberger Singakademie das Werk wiederholt aufzuführen, und jetzt gelang es, den König als Zuhörer zu gewinnen. Die Aufführung und insbesondere auch die Ouvertüre wurden anlässlich dieser Ehrung geadelt: Friedrich Wilhelm IV war begeistert. Die Ouvertüre wurde in einen goldverzierten Prachtband eingeschlagen. Nach den Feierlichkeiten erhielt Otto Nicolai als Auszeichnung eine goldene Dose und zwei Gedenkmünzen.
1845 wurde das Werk schließlich unter dem Titel Kirchliche Fest-Ouvertüre über den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“, op. 31 in Leipzig gedruckt. Diese unerwartete Erfolgsgeschichte ist nun gleichsam das Gegenstück zur Rezeptionsgeschichte der Reformations-Sinfonie Mendelssohns.
Und dennoch gibt es inhaltliche Überschneidungen oder Parallelen. Auch in Otto Nicolais Komposition kann von einem außermusikalischen Programm nicht gesprochen werden. Der Choral eröffnet das Werk gleichsam als thematische Vorlage, gefolgt von einer Choralbearbeitung, die eine typische Satztechnik des 18. Jahrhunderts aufgreift und in die eigene Tonsprache überführt. Nach der ersten orchestralen Durchführung wird ein Gegenthema vorgestellt, das sich künftig in die polyphonen Durchführungen einmischt. Doch bevor die motivische Verarbeitung fortgesetzt wird, erklingt der Choral erneut, jedoch als Form gebende Zäsur. Die kontrapunktische Choralbearbeitung wird nun im Verlauf des polyphonen Satzes durch den Chor verstärkt und formal verdeutlicht. Alle Strukturen und Abläufe sind rein musikalisch motiviert und haben keinen programmatischen Zweck. Der Wiedereinsatz des Chores mit dem Eingangschoral im piano ist ein guter Hinweis auf den Verzicht, inhaltliche Akzente zu setzen. Selbstverständlich geht die Ouvertüre im maestoso zu Ende, aber das Feierliche siegt, ohne der Idee oder Deutung von Reformation etwas abgerungen zu haben. Das kirchliche Fest der Protestanten steht für sich und ist eher politisch ein Programm. Otto Nicolai verfehlt die mögliche Variante zur vorzeitigen Meistersinger-Ouvertüre um ein Geringes. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass seine Feierlichkeit stets gelassen bleibt und unbeschwert Musik entfaltet. Nicolais Bemühungen waren letztlich erfolgreich, er wurde 1847 zum Direktor des Königlichen Hof- und Domchores (heute Staats- und Domchor) ernannt, wenige Jahre zuvor noch hatte Felix Mendelssohn Bartholdy dieses Amt bekleidet. Die Parallelität der beiden kurzen Lebensläufe trifft sich interessanterweise bei einem Arbeitgeber. Wer war Friedrich Wilhelm IV?
Zu Beginn seiner Regentschaft (von 1840 bis 1858) hatte sich Friedrich Wilhelm IV 1841 um Mendelssohn bemüht. Der Erfolg blieb zunächst nicht aus, die Erwartungen des bereits international gefeierten Komponisten konnte oder wollte der Monarch schließlich doch nicht erfüllen.
Der preußische König hatte in der ersten Amtsperiode zwischen 1840 und 1848 große Hoffnungen geweckt, liberale und aufklärerische Kräfte sogar unterstützt. Den Künsten sehr aufgeschlossen, einer Lockerung der Zensur zugetan und im Rahmen der gebotenen Möglichkeiten religiös tolerant – die Politik des liberalen Judenediktes von 1812 seines Vaters fortsetzend – war die Regierungszeit von etlichen Zugeständnissen geprägt. Die revolutionären Tendenzen im Vormärz verstärkten sich, und der wachsende Liberalismus und die Forderungen der nationalen Einheit gegen feudalistische Willkür erreichten in der Revolution von 1848 ihren Höhepunkt.
Mit einer restaurativen Kehrtwende zerstörte Friedrich Wilhelm IV 1849 die Hoffnungen auf Veränderungen. Tatsächlich war er niemals der aufgeklärte Monarch, den sich mancher ersehnt hatte. Er war und blieb Repräsentant der restaurativen Ära Metternichs im Deutschen Bund. Die Regierungsetappe zwischen 1849 und 1858 wird als preußische Reaktionsära in die Geschichte eingehen. Seine Politik erneuert das Gottesgnadentum konsequent und erblickt Vorbilder im Heiligen Römischen Reich. Hier verbindet sich die nostalgische Mittelalter – Begeisterung mit der konservativ-reaktionären Haltung eines sich in konträre Bewegung entwickelnden Nationalismus, der einer einst liberalen Forderung nach nationaler Verbindlichkeit gegen willkürliche Kleinstaaterei den Wind aus den Segeln nimmt. Ein Aspekt des christlichen Glaubens der reformierten Kirchen ist zudem konnotiert: Die Prädestinationslehre der reformierten Kirche beruht auf dem Glauben an die verborgene Gnadenwahl Gottes.
Auch wenn eine direkte und bewusste Bezugnahme sicher nicht ausdrücklich erklärt wird, spielt doch dieser Aspekt eine nicht unwesentliche Rolle im Gesamtzusammenhang der neuen Politik. Aus den Komponenten des Gottesgnadentums, das auf die Karolinger und Ottonen zurück geht, und der romantischen Mittelalter-Verklärung, erwächst eine politische Haltung, die den Nationalismus letztlich mit dem Protestantismus verknüpft, hernach die Reformation heldenhaft verklärt, dennoch entkernt und die Kirche in den Dienst des Staates stellt. 1850 lässt Friedrich Wilhelm IV einen lang aufgeschobenen Plan verwirklichen und das Eosander-Portal des Berliner Schlosses von einer Kuppel krönen. Es ist nicht die Umsetzung des geplanten Entwurfes, sondern eine große von Stüler entworfene Rundkuppel, die – weithin sichtbar – ein protestantisches Kreuz trägt und in sich die neue Domkapelle beherbergt, mit einer Kapazität von 600 Plätzen.
Das Janusköpfige in der Bedeutung der Reformation für den preußischen Staat wird sichtbar, wenn man die zur Rede stehenden Werke in die historische Entwicklung Preußens einbettet: auf der einen, künstlerischen, Seite wird der aufklärenden Rolle der Reformation als gesellschaftlicher Prozess gehuldigt, die zweite, sich später mehr und mehr durchsetzende politische Seite, hingegen verklärt die Reformation, konnotiert im Kontext vermeintlicher mittelalterlicher Ideale und Martin Luther, ihrem deutschen Held.
(Beitrag zum Konzert Berlin und die Reformation)