Neben den Erinnerungen Eduard Devrients sind die zwei Briefe von Fanny Hensel von besonderer Bedeutung; sie geben einen genauen Bericht über die in kurzer Folge veranstalteten Konzerte im Haus der Sing- akademie und beleuchten zudem das Verhältnis zwischen Carl Friedrich Zelter und der Familie Mendelssohn innerhalb der Planung und Vorbereitiung der Auffüh- rung am 11.3.1829.
Der Brief von Fanny an Klingemann vom 22.3.1829 soll hier unkommentiert wieder gegeben werden:
‚Felix und Devrient sprachen schon lange von der Möglichkeit einer Aufführung, aber der Plan hatte nicht Form noch Gestalt, an einem Abend bei uns gewann er Beides und den Tag darauf wanderten die Zwei in neugekauften gelben Handschuhen (worauf sie sehr viel Gewicht legten) zu den Vorstehern der Akademie. Sie traten leise auf und fragten bescheidentlich, ob man ihnen zu einem wohlthätigen Zweck wohl den Saal überlassen würde? Sie wollten alsdann, da die Musik wahrscheinlich sehr gefallen würde, eine zweite Aufführung zu Gunsten der Akademie veranstalten.
Aber die Herren bedankten sich höflich und zogen vor, ein gewisses Honorar von fünfzig Thalern zu nehmen und den Concertgebern die Verfügung über die Einnahmen anheim zu stellen. Beiläufig gesagt, kauen sie noch heut an der Antwort. Zelter hatte nichts dawider einzuwenden und so begannen die Proben am folgenden Freitag.
Felix ging die ganze Partitur durch, machte einige wenige zweckmäßige Abkürzungen und instrumentierte das einzige Recitativ: „Der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke.“- Sonst ward Alles unberührt gelassen.
Die Leute staunten, gafften, bewunderten, und als nach einigen Wochen die Proben auf der Akademie selbst begannen, da zogen sie erst die längsten Gesichter vor Staunen, dass solch ein Werk existirte, wovon sie, die Berliner Akademisten, nichts wussten. Als das begriffen war, fingen sie mit wahrem und warmen Interesse an zu studiren. Die Sache selbst, das Neue, Unerhörte der Form interessirte, der Stoff war allgemein ansprechend und verständlich, Devrient trug die Recitative wunderschön vor; wie alle Sänger schon von den ersten Proben an ergriffen waren und mit ganzer Seele an das Werk gingen, wie sich die Liebe und Lust bei jeder Probe steigerte und wie jedes neu hinzutretende Element, Sologesang, dann Orchester, immer von Neuem entzückte und erstaunte, wie herrlich Felix einstudirte und die früheren Proben am Fortepiano (sic!) von einem Ende zum Andern auswendig akkompagnirte, das sind lauter unvergessliche Momente.
Zelter, der in den ersten Proben mitgewirkt hatte, zog sich nach und nach zurück und nahm in den späteren Proben, sowie in den Aufführungen mit musterhafter Resigna- tion seinen Sitz unter den Hörern.
Nun verbreitete sich aber durch die Akademie selbst ein so günstiges Urtheil über die Musik, das Interesse ward in jeder Beziehung und durch alle Stände hindurch so lebhaft angeregt, dass den Tag nach der ersten Ankündigung des Concerts alle Billets vergriffen waren und in den letzten Tagen über tausend Menschen zurückgehen mussten.
Mitwoch, den zehnten März, (hier hat sich ein Fehler eingeschlichen: es war der 11. März, Anmerkung des Autors) war die erste Aufführung, die man, unbedeutende Versehen der Solosänger abgerechnet, durchaus gelungen nennen konnte. Wir waren die Ersten auf dem Orchester; gleich nach Oeffnung der Thüren stürtzten die Men- schen, die schon lange gewartet hatten, hinein und der Saal war in weniger als einer Viertelstunde voll.
Ich sass an der Ecke, dass ich Felix genau sehen konnte und hatte die stärksten Altstimmen neben mich genommen. Die Chöre waren von einem Feuer, einer schlagenden Kraft und wiederum von einer rührenden Zartheit, wie ich sie nie gehört, ausser bei der zweiten Aufführung, wo sie sich selbst übertrafen. In der Vorraussetzung, dass Ihnen die dramatische Form noch erinnerlich ist, schicke ich Ihnen ein Textbuch mit, wobei ich bemerke, dass Stümer die Erzählung des Evangelisten, Devrient die Worte Jesu, Bader den Petrus, Busolt den Hohenpriester und Pilatus, und Weppler den Judas sang. Die Schätzel, Milder und Türrschmidt sangen die Sopran- und Altsolos vortrefflich.
Der überfüllte Saal gab einen Anblick wie eine Kirche, die tiefste Stille, die feierlichste Andacht herrschte in der Versammlung, man hörte nur einzelne unwillkürliche Aeusserungen des tieferregten Gefühls; was man so oft mit Unrecht von Unternehmungen dieser Art sagt, kann man hier mit wahrem Recht behaupten, dass ein besonderer Geist, ein allgemeines, höheres Interesse
diese Aufführung geleitet habe und dass Eduard Devrient ein Jeder nach Kräften seine Schuldigkeit, manche aber mehr thaten. So Rietz, der das Abschreiben aller Instrumentalstimmen mit Hülfe seines Bruders und Schwagers übernommen und denen Dreien man nach beendeter Arbeit kein Honorar aufzudringen vermochte; die meisten Sänger wiesen die ihnen zugedachten Freibillets zurück oder bezahlten sie, sodass im ersten Concert nur sechs Freibillets waren (wovon Spontini zwei hatte), im zweiten gar keins.
Noch vor der Aufführung war durch die Vielen, die unberücksichtigt bleiben mussten, das laute Geschrei um eine Wiederholung ertönt und die Erwerbschulen hatten sich als Supplikanten gemeldet, allein diesmal war Spontini erwacht und bemühte sich mit der grössten Freundlichkeit, die zweite Aufführung zu hintertreiben, Felix und Devrient schlugen dagegen den gradesten Weg ein und verschafften sich Befehle vom Kronprinzen, der sich von Anfang an sehr für das Werk interessirt hatte und so ward es Sonnabend, den ein und zwanzigsten März, an Bach’s Geburtstag wiederholt.
Dasselbe Gedränge, noch grössere Fülle, denn der Vorsaal sogar war eingerichtet und alle Plätze verkauft, ebenso der kleine Probensaal hinter dem Orchester. Die Chöre waren fast noch vortrefflicher als das erste Mal, die Instrumente herrlich, nur ein arger Fehler, den die Milder machte, und andre kleinere in den Solostimmen verdarben Felix den Humor, im Ganzen kann man aber sagen, dass gute Unternehmungen sich keinen erfreulicheren Erfolg wünschen können.’
Ein weiterer Brief von Fanny an Felix vom 18.4.1829 ist ebenso bedeutsam. Die Tatsache, dass Zelter dieses Konzert dirigierte, da Mendelssohn selbst schon die Reise nach England angetreten hatte, ist deshalb von Interesse, weil gerade neben konkreten Fehlern und Pannen der Aufführung am Karfreitag 1829 detaillierte Differenzen zu den ersten beiden Konzerten im März 1829 auffällig sind und Rückschlüsse zulassen.
Dass sich die Beziehung zwischen Schülerin Fanny und Schüler Felix einerseits, der Familie Mendelssohn darüber hinaus und andererseits dem Lehrer und der Autoritätsperson des Musikers Zelter nicht immer spannungsfrei gestaltete, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Zelter selbst wurde in Berlin oft für seine konservative künstlerische Haltung kritisiert.
Welche musikalische Herausforderung die Leitung der Aufführung einer Matthäuspassion damals bedeutete, geht aus dem Brief vom Karsamstag, 18.4.1829, zweifelsfrei hervor:
‚Ich will Dir jetzt von dem Gegenstande erzählen, der Dich vor der Hand noch mehr berühren wird als Emancipatio, Departementalgesetz, und spanisches Erdbeben, ich meine unsere gestrige Passion. Hier vor der Hand das Resultat: die Aufführung war weit über meine Erwartungen, und weit hinter der Deinigen zurück. Von den Montags und Dienstags Proben wollte ich Dir gar nichts schreiben, um nicht den Jammer in Dir zu erwecken, von dem meine Seele voll war. Zelter spielte selbst, und was er mit seinen zwei Fingern und seiner völligen Unkenntniß der Partitur herausbrachte, kannst Du Dir denken. Mißstimmung und Angst verbreitete sich im ganzen Chor, und Dein Name wurde vielfach genannt. Die Donnerstagsprobe war nicht geeignet, jene Besorgnisse zu vermindern, Zelter taktirte nicht bei den accompagnirten Rezitativen (das hat Mendelssohn offenbar so gemacht, Anm. des Autors) und bei den Chören nur, wenn er es nicht vergaß. (In den Chören hat Felix Mendelssohn demnach durchgängig dirigiert, Anm des Autors). Stümer that Wunder, und hielt sich, bei Zelters fast fortwährend falschem Accompagnement, stets richtig.
Um einige Einzelheiten zu nennen, so war Devrient so verwirrt, daß er unter anderem nur das halbe Abendmahl einsetzte, und gleich in F Dur anfing: „Trinket alle daraus“. Die Milder warf das Duett wie gewöhnlich um, die Schätzel plackerte stark in ihrer Arie, die kleinen Chöre „Der rufet den Elias“ und „Halt laß sehen“ gingen drunter und drüber etc. Zelter fuhr entsetzlich drein, war sehr böse, verwirrte sich immer beim Umwendender ausgelassenen Stücke, wodurch große Pausen entstanden und wobei ihn Stümer, mit mehr Discretion und Haltung, als ich ihm zugetraut hätte, still zurechtwies, Devrient saß da, als ein vollendeter Ecce Homo. Um 5 schloß die Probe, und außer uns vor Ermüdung, Anstrengung und Angst kamen wir nach Haus, nachdem ich noch mit Devrient, Rietz und David einen kleinen Rath gehalten hatte, und übereingekommen war, daß Rietz ganz durch taktiren, David aber pausieren sollte, als hinge sein Leben davon ab, denn der 2te Chor war bei späteren Eintritten ganz auf sich allein angewiesen.
Nach diesen Aspekten ging es denn noch außerordentlich. Deinen Vorschlag mit den ‚Clarinetten’ hatte Rietz in der Probe versucht, und ich hatte den Chor ungestört, wir fanden es aber nicht zweckmäßig, es klang zu spitz und verlor den Orgelcharakter (dieser Orgelcharakter spielt in späteren Oratorienaufführungen Mendelssohns immer eine sehr wichtige Rolle, Anm. des Autors) und so blieb es beim Alten in der Aufführung. Ida Benda, die ich gesehen habe, sagte, der Choral habe wunderschön geklungen.
Der erste Chor ging übrigens gut. Rietz taktirte, und bei den Worten Jesu kamen die Instrumente fast immer präcis, was sehr zu verwundern. Die Milder sang die Arie sehr schön, schluckte zwar ein ganzes Achtel lang, aber die Flöten gaben nach. Abendmahl sehr schön. „O Schmerz“ zu geschwind, und das ‚pp’ im Chor verschwunden.
„Siehe, er ist da, der mich verräth“ sang Devrient laut Befehl. Duett, wider Erwarten, vortrefflich, Chor schwach, daß Zelter endlich seine Lust büßte, und die Instrumente durchtaktirten, begreifst Du. Auch kamen sie nicht ganz präcis. Schlußchoral ohne piano, Flöten vortrefflich, Altarie gut, unter den Choreintritten, waren durchweg die Tenöre am schwächsten. Die kleinen Chöre gut, bei „Wahrlich du bist auch Einer“ fehlten zu Anfang die Flöten. In „Erbarme dich“ machte die Schätzel denselben Fehler wie in der Probe, aber so geschickt, daß es wol nur wenige gehört haben. „Was gehet uns das an“ war der einzige Chor, der anfangs sehr wackelte. „Der du den Tempel Gottes“ viel zu geschwind, Rietz hielt an, aber der Anfang war weg. Nun kam der große Scandal, der nicht fehlen kann: „Ach Golgatha“, fing statt auf dem 4., auf dem 8ten Achtel an, und mit ihrer gewohnten Consequenz blieb die Milder, durch das ganze Recitativ, ihren halben Tact zurück, obgleich Zelter ihr mit aller Macht des Claviers richtig vorspielte. Rietz ging (sic!) zu den Bassethörnern hin (hier haben wir einen deutlichen Hinweis auf die Besetzung der Bassetthörner, die für die ersten beiden Konzerte nicht eindeutig belegt ist, Anm. des Autors) und brachte sie auch richtig in Ordnung, aber erst in den letzten Takten, und solcher Jammer ward selten erhört. Sie hat mit wunderbarer Symmetrie das erstemal das erste Stück verdorben, das 2temal das 2te, und gestern das dritte. Als es aus war, umarmten mich Viele, und jammerten nach Dir. Bader und Stümer an der Spitze. Stümer ward ganz weich und sagte, es muß Ihnen doch heut komisch zu Muth gewesen sein. Dafür machte ich ihm die größten Komplimente darüber, wie er sich hat halten können, Rietz hat auch Wun- der gethan, denn Zelter taktirte nur wenn es ihm einfiel, konnte er den Taktstock nicht schnell genug fassen, so nahm er die Hand, und wenn er auch das vergaß, kamen die Chöre von selbst.
Im Ganzen genommen, war es für das Publicum eine gute Aufführung, auf dem Orchester aber fühlte ein Jeder, wo es fehlte. Mit stand der Kopf den ganzen Abend nach dem Dampfschiff. Es war übrigens sehr voll, der König von Anfang zu Ende da. Noch muß ich bemerken, daß Devrient die Partitur nach der Probe aufgenommen, und die ausgebliebenen Stücke mit Mundleim verklebt hatte. Er nimmt es wieder fort, und außerdem ist Deine Partitur durchaus nicht verunreinigt worden. Rietz hat göttlich gespielt. Und nun glaube ich, fertig zu seyn……’