Die Glagoliza ist die älteste slawische Schrift und ein in Buchstaben gegossenes Fundament des Altkirchenslawisch. 863 n. Chr. erfand sie der Mönch Kyrill von Saloniki für die Mission in Pannonien und Mähren. Das griechische Alphabet war für slawische Sprachen nur bedingt verwendbar und schien wenig geeignet, die kulturelle Eigenständigkeit der Slawen zu berücksichtigen. Das kulturelle und sprachliche Entgegenkommen war regional jedoch zur Verbreitung und Vertiefung des Christentums unabdingbar.
Ein weiteres Alphabet trat sehr bald in Konkurrenz, als fast gleichzeitig in Bulgarien die kyrillische Schrift entstand. Die später erfolgte Ausprägung der russischen kirchenslawischen Liturgie, deren Wurzeln ohne Spuren des glagolitischen Schriftbilds geprägt sind, zeigt die Unabhängigkeit zwischen Sprache und Schrift.
Die Entwicklung des Glagoliza hingegen konnte in wechselvoller Geschichte die Verbreitung des Kirchenslawischen in Bosnien, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Mähren, Pannonien, Böhmen, Makedonien, Dalmatien und Istrien voranbringen und blieb in unterschiedlicher Intensität innerhalb der Regionen bis ins 20. Jahrhundert als Tradition erhalten. Papst Innozenz IV. gestattet 1248 den Gebrauch der kirchenslawischen Sprache zu liturgischen Texten in römisch-katholischen Messen. 1483 erschien in Venedig ein Missale Romanum in glagolitischen Lettern.
Besonders in Dalmatien und Kroatien blieb die Glagoliza ein kulturelles Erbe, die kirchenslawische Sprache lebendig und ein Identität stiftendes Mittel als Abgrenzung zur lateinischen Sprache der ‚westlichen’ Welt. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschien ein katholisches kirchenslawisches Messbuch, das noch lange in Gebrauch kroatischer katholischer Kirchen blieb. Mehr als nur ein religiöses Bekenntnis, wurde es darüber hinaus zum wichtigen Zeichen der osteuropäischen Nationalbewegungen, die sich im 19. Jahrhundert in slawischsprachigen Regionen entwickelt hatten. Die regional unterschiedlichen Dialekte der Aussprache des Kirchenslawischen sind auf die jeweilige Beeinflussung durch lokale volkssprachliche Idiome zurückzuführen.
Das Tschechisch- Kirchenslawisch spielte dabei in der Überlieferung –sprachlich gesehen – zwar eine untergeordnete Bedeutung, was auch Janáčeks Übertragung der Schrift ins Tschechische deutlich macht. Doch das Identität stiftende Element als kulturelle Abgrenzung innerhalb der Nationalbewegung kristallisierte sich in der Haltung des panslawistischen Komponisten als eigentlicher Beweggrund der Werkgenese, wobei das religiöse Motiv keinesfalls Randerscheinung ist: „Die kirchenslawische Liturgie stand 1920 erneut im Zentrum des Interesses, denn am 21. Mai dieses Jahres wurde durch den fünften Punkt eines Dekrets der Heiligen Kongregation in Gottesdiensten die Verwendung der kirchenslawischen Sprache in der Liturgie erlaubt.“(J. Zahrádka, Kritische Gesamtausgabe Bärenreiter 2011)
Janáček begann vermutlich im Oktober 1920 mit der Konzeption und den ersten Skizzen zu seinem großen Alterswerk. Unterbrochen von anderer Kompositionsarbeit, kehrte der mährische Musiker erst 1926 zur Komposition seiner Messe zurück, wobei der eigentliche und konkrete Anlass der Arbeit spekulativ bleibt. In einem Brief an seine Frau Zdenka vom 17. August 1926 erwähnt Janáček die Messe konkret. Von diesem Zeitpunkt an lässt sich die Entwicklung der Komposition reich historisch gesehen verfolgen.
Am 21. Dezember 1926 datiert die Sitzung eines Komitees zur Vorbereitung der philharmonischen Konzerte des Brünner Kulturvereins, in der das neue Werk als ‚Missa solemnis’ angekündigt wird. Die Proben zur Glagolitischen Messe sind teilweise dokumentiert. In der zweiten Novemberhälfte 1927 zentrierten sich die Proben, am 4.Dezember fand am Vormittag die Generalprobe im Ausstellungspavillon des Stadions von Brünn statt, am 5. Dezember wurde die Glagolitische Messe am Abend direkt im Stadium als Großereignis zur Uraufführung gebracht, um gleich darauf vom Komponisten gründlich umgearbeitet zu werden. Der eigentliche Anlass zur neuen Fassung der Komposition war begründet durch die Planung der Druckausgabe. Diese konnte jedoch zur nächsten geplanten Aufführung nicht vollendet werden. Am 8. April 1928 fand die besagte zweite Aufführung der Messe in Prag statt, musste aber mit einer Mischfassung der Uraufführungsversion und einigen Änderungen vorliebnehmen, die bereits handschriftlich in das vorhandene und zur Uraufführung benutzte Notenmaterial eingetragen waren. Die endgültige Fassung der Komposition war zwar vorbereitet, wurde dennoch erst nach dem Prager Konzert komplettiert und in alle Noten übertragen.
Da Janáček am 12. August 1928 unerwartet starb, erlebte er die Veröffentlichung dieser überarbeiteten Partitur und der Orchesterstimmen am 1. März 1929 ebenso wenig, wie die dritte Aufführung seines Spätwerks am 28. Februar 1929 in Berlin unter Leitung von Alexander von Zemlinsky.
Wenn auch die Uraufführungsversion rein geschichtlich für uns von großem Interesse ist, bleibt doch der letzte Wille des Komponisten ein künstlerisches Vermächtnis und zeigt den versierten praktischen Musiker, der die Optimierung seines Werkes anpasst und Ideen zum Besten seiner Musik relativieren kann. Die Tonsprache verrät die Heimat des Komponisten deutlich, zeigt aber dennoch die neue Facette einer festlichen Messe, einer ‚Missa solemnis’, die den Charakter eines Jubiläumskonzertes ausgezeichnet unterstreichen kann.