Wer Mendelssohns Musik im Ohr hat, wird sich wundern, wenn er erfährt, dass die Werke des Komponisten Carl Maria von Weber, die heute auf unserem Programm stehen, weit früher geschaffen und uraufgeführt wurden. Webers Musik mutet im Vergleich zu vielen Zeitgenossen sehr ‚modern’ oder ‚fortgeschritten’ modisch an, wobei die unverwechselbare Tonsprache den technischen Herausforderungen einer Komposition eigentlich nichts Außergewöhnliches hinzufügt.
Die 1819 uraufgeführte Missa sancta in G-Dur ist im Gegenteil sehr schlicht strukturiert, außerordentlich geschmeidig gestaltet in Melodieverläufen und der Stimmführung, einprägsam ausgedacht in ihrer Motivik und konturenscharf in ihren formalen Abläufen konzipiert. Polyphonie und Kontrapunktik treten in den Hintergrund zugunsten einer auf Melos und unmittelbarer Wirkung bedachten
Klangentfaltung, die brilliant und virtuos erscheint und immer den spielerischen Aspekt der Musik betont. Ein Feuerwerk der Affekte versprüht die immer präsente Lebensfreude in der Mehrheit seiner Meisterwerke.
Webers kompositorischer Ansatz ist in erster Linie ein pragmatischer Prozess im Bestreben, alle musikalischen Äußerungen so gut als möglich ‚auf den Punkt’ zu bringen. Die Nähe zur Volksmusik und die Suche nach klaren Strukturen sind beabsichtigt und zeugen von aufklärerischen Prinzipien im Kunstverständnis seiner Zeit. Die Kunstfertigkeit beweist sich hier nicht im Umgang mit Traditionen, die es natürlich auch in der Musik von Weber gibt, sondern in der Art ihrer Vermittlung. Und dennoch gibt es Parallelen zu Mendelssohn, der sich seinerseits bewundernd an Weber orientierte.
Ein gutes Beispiel dafür ist die innere Verwandtschaft der Schauspielmusik für den Sommernachtstraum zur Oper Oberon. Mendelssohn schätzte den Musikdramatiker und eiferte ihm nach. Das dramaturgische Geschick Webers lässt ihn im Hinblick auf die sächsische Jubel-Periode geradezu prädestiniert erscheinen. Ouvertüre und Messe stehen in engem Kontakt zueinander, was schon durch die Anlässe ihrer Komposition vorgezeichnet ist.
Die Jubelouvertüre entstand 1818 zum 50-jährigen ‚Dienstjubiläum’ des sächsischen Königs, Friedrich August I. Die Jubelmesse entstand im selben Jahr, wurde am 17. Januar 1819 im Rahmen der Festlichkeiten zur Goldenen Hochzeit des sächsischen Königspaares in der Dresdner Hofkirche uraufgeführt und Maria Amalia Augusta, Königin von Sachsen gewidmet. Das innerhalb dieser Messe vorgesehene Offertorium wurde letztlich durch eine fremde Komposition ersetzt, jedoch am 24. Januar in der geplanten Fassung nachgeholt. Erst 1835 konnte die Messe zur Veröffentlichung freigegeben werden, da das Eigentumsrecht des Königshauses einer Verbreitung im Wege stand.
Die überlieferten Reaktionen der Widmungsträger müssen eher mäßig ausgefallen sein, was aber möglicherweise den Umständen ihrer Aufführung geschuldet ist, die jeweils in großer Eile vorbereitet werden mussten. Am Ende der Jubelouvertüre zitiert Weber eine Hymne, die heutige britische Zuhörer sicher zum Aufstehen nötigen könnte. Sollten Sie sich angesprochen fühlen, muss jedoch eingewendet werden, dass es sich keinesfalls um die englische Nationalhymne handelt, die Weber spielen lässt. Auch der Bezug zu ‚Heil dir im Siegerkranz’ ist nicht beabsichtigt, die preußische Volkshymne gab es in dieser Form noch gar nicht. Die uns heute bekannte Fassung der besagten Volkshymne ist aus dem Jahre 1871, also in der Version, die aus der Volkshymne eine Kaiserhymne machte.
Regionale Varianten der preußischen Hymne, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht vom Staat in Anspruch genommen wurden, gab es gehäuft. Die musikalische Gestalt war dabei immer gleich, nur der unterlegte Text unterschied sich. Der Hymnentext‚ Gott segne Sachsenland’ wurde von Siegfried August Mahlmann 1815 gedichtet und wendet sich in der zweiten Strophe direkt an Friedrich August. Es ist also durchaus nachvollziehbar, wenn Weber zum Anlass eines politischen Jubiläums die festliche Ouvertüre mit dieser Hymne beendet. Die Briten dürfen also sitzen bleiben – die Sachsen stehen bitte auch nicht auf! – und müssen damit rechnen, dass patriotische Auswüchse in ganz Europa nach dem Brexit die Exklusivität der englischen Nationalhymne in Frage stellen? Nein, soweit
wird es dann wohl doch nicht kommen, aber ein Kuriosum ist es allemal, dass wir festliche Musik für den sächsischen Hof präsentieren, der feierliche Abschlüsse beinhaltet, die heute ganz ndere Assoziationen wecken. Patrioten und Nationalisten könnten da wohlmöglich sehr nachdenklich werden.
Hintergrund der Verehrung dieses sächsischen Königs mit einer Hymne ist der Umstand, dass Friedrich August im Juni 1815 aus preußischer Gefangenschaft zurückkehrte und im ganzen Land begeistert empfangen und gefeiert wurde. Die preußisch-russischen Verbündten hatten nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 Avancen des sächsischen Königs getrost ausschlagen können. Auf dem Wiener Kongress 1815 wurde Friedrich August stellvertretend für die Treue der Bündnispartner zu Napoleon abgestraft. Nur am Rande und, interessanterweise bemerkt, kam die Familie Mendelssohn hingegen im gleichen Zeitraum aus Hamburg nach Berlin, weil die erwähnten historischen Entwicklungen die Abwicklung französischer Reparationszahlungen durch die Mendelssohn-Bank erforderte. Dieses Geschäft hat Abraham Mendelssohn reich gemacht und, unter anderem, seinem Sohn Felix eine sehr gute Ausbildung in Berlin ermöglicht.
Hier schließt sich der Kreis unseres Konzertprogramms, der bei aller Gegensätzlichkeit der Stilistik, hintergründige musikalische Verbindlichkeiten konstatiert. Es bleiben die ausgewiesenen Meisterwerke der Chormusik in ihrer unmittelbaren Schönheit zurück, beseelt vom Ausdruck der menschlichen Stimme.
Das lässt hoffen.