Maurice Duruflé (1902-1986) ist ein Komponist und Organist, der sein Schaffen ganz in den Dienst und die Tradition der französischen Kirchenmusik stellte. Von der Spätromantik und dem Impressionismus geprägt, blieb sein geistliches Werk der melodischen Struktur der Gregorianik verpflichtet.
Seine Requiem-Komposition basiert auf der in der liturgischen Praxis überlieferten gregorianischen Musik, dem Ordinarium missae und dem Proprium missae. Jeder Satz ist eindeutig und unmissverständlich den jeweiligen liturgischen Passagen zugeordnet und bleibt stets Ausgangspunkt für die Komposition, wobei sich die musikalische Gestaltung nicht im Zitieren erschöpft, sondern alle Möglichkeiten der satztechnischen, kontrapunktischen und motivisch-thematischen Verarbeitung auslotet. Diese handwerklichen Komponenten des Werkes stehen jedoch nicht für sich, sondern sind erfüllt vom Anliegen des Komponisten, das tradierte liturgische Material in unsere Zeit zu überführen. Die Harmonik und Klangsprache lässt alte melodische Linien im neuen Begleitkontext verschmelzen, sie werden sozusagen ihrer musik-geschichtlichen Funktion entbunden und tragen ein neues musikalisches Gewand.
Im Kyrie augmentieren (vergrößern) die Trompeten die gregorianische Quelle über dem kontrapunktischen Chorsatz, bilden eine förmliche Klammer und lassen das thematische Material omnipotent erscheinen.
Im Domine Jesu werden liturgische Themen in Motive unterteilt und erscheinen gleichwohl im Chor wie auch im Orchester, wobei die rhythmische Struktur so verändert ist, dass sich ein thematisches Fundament vielleicht nur beim Lesen zu erkennen gibt.
Das Sed signifer sanctus Michael wird in der Oboe vorweg genommen und deutet durch den in der höheren Quarte beginnenden Sopran die tatsächlich nicht ausgeführte kanonische Behandlung an. Diese satztechnisch folgenlose Ankündigung setzt sich im Verhältnis zum Baritonsolo später fort.
Sehr eindringlich zeigt der Beginn des Sanctus die Bestrebung, gregorianische Melodien in ‚moderne’ Harmonien zu tauchen. Dem Zuhörer entschwindet der geschichtliche Zusammenhang vollständig, das Bestreben zur emotionalen Identifikation im musikalisch formulierten Gebet hingegen wird deutlicher. Die Schönheit der musikalischen Sprache öffnet dem Zuhörer Tor und Tür, verlässt die Tradition jedoch niemals, sondern betört das moderne Ohr gerade in der Hinwendung an tradierte liturgische Musik.Hier wird keine populistische Sakral-Propaganda praktiziert. Die Sprache bleibt ehrlich und authentisch, setzt sich reflektierend mit Quellen und praktizierter Liturgie auseinander. Sie verzichtet auch auf äußerliche Effekte der Textauslegung und begnügt sich mit dem Gewand, das aus dem handwerklichen Prozess der thematisch-motivischen Arbeit entsteht. Dieses neue Kleid ist nicht nur aus dem Stoff der Tradition gewebt, sondern zeigt Spuren der jüngst gewachsenen Historie der französischen Kirchenmusik von Berlioz, Saint-Saens, über Gounod und Fauré.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Orchestrierung, die wie bei Saint-Saens und Fauré die Orgel als klanglichen Mittelpunkt vorsieht, es sind die liturgischen Textvorlagen der Vertonungen, die sich interessanterweise vom Standard der Requien-Kompositionen abheben.
Das In Paradisum als tröstender Abschluss ist nicht selten in moderneren Requiem-Vertonungen zu hören. Die liturgischen Auslassungen sind jedoch auch im Hinblick auf zeitbedingte Werke dieser Gattung einzigartig, ein Dies irae fehlt ganz. Dem tröstenden Abschluss wird kein Strafgericht vorn angestellt. Die Entscheidung der Abweichungen der Textvorlagen ist hingegen keine Eigenmächtigkeit des Komponisten, sie basiert auf der kirchlich getroffenen Festlegung des Zweiten Vatikanischen Konzils und ist damit in Übereinstimmung mit der liturgischen Praxis des modernen Alltags.
Duruflé bekennt sich zum gläubigen Katholiken seiner Gegenwart und lässt erahnen, welchen Bekenntniswert er der geistlichen Musik zumisst.