Es ist problematisch das Werk eines Künstlers reduziert auf den Hinweis einer besonderen Lebensgeschichte erklären zu wollen. Dennoch wird man bei Gustav Mahler nicht umhin kommen eine außergewöhnliche autobiographische Bezogenheit zu konstatieren, die sich in künstlerischer Hinsicht natürlich als allgemeingültig zu begreifendes Werk präsentiert und den geschichtlichen Kontext aufgreift, reflektiert und zu deuten vermag.
Gustav Mahler war ein Zeitzeuge seiner Epoche und romantisches Individualgenie, das Werk und Leben in enger Verwobenheit charakterisiert; Er war aber andererseits auch ein engagierter Pionier einer in die Moderne weisenden musikalischen Sprache – ganz besonders im Hinblick auf die Art der Instrumentierung und Orchestrierung, die auch im Vergleich zu einer Vielzahl herausragender Komponisten seiner Zeit auffällig und bemerkenswert zukunftsorientiert ist. Im böhmischen Kalischt 1860 als zweites Kind geboren, wuchs Gustav Mahler als ältester Sohn seiner Familie im mährischen Iglau auf. Die Stadt war damals eine deutsche ‚Sprachinsel‘. Sein älterer Bruder war noch vor Gustavs Geburt gestorben; Der Vater verkaufte 1860 seine Weinbrennerei und den Gasthof in Kalischt und zog nach Iglau, in der Hoffnung, seine wirtschaftlich schwierige bis katastrophale Situation grundlegend zu verbessern. Aus etlichen überlieferten Schilderungen ergeben sich jedoch Zweifel am ökonomischen Erfolg des Vaters, auch die soziale Lage der Familie muss skeptisch beurteilt werden. Der älteste Sohn wurde mehrfach Zeuge körperlicher Gewalt seines Vaters gegenüber der Mutter, die aus einer behüteten böhmischen Familie kam, in der jüdisch-religiöses Leben im Alltag gepflegt wurde. Die religiösen Aktivitäten der Familie Mahler innerhalb der jüdischen Gemeinde und in der Synagoge in Iglau hingegen sind zu differenzieren und werden widersprüchlich dokumentiert. Unbestritten ist jedoch der starke Eindruck, den die Begegnung und Erfahrung mit synagogaler Musik hinterlassen hat – für den musikalisch sensiblen und aufgeschlossenen Jungen blieb das nicht ohne Wirkung.
Dass musikalische Erlebnisse als Gegenwelt zum möglicherweise sehr angespannten sozialen Umfeld verstanden wurden, lag auf der Hand. Die persönliche Affinität zur böhmischen Volks- und Tanzmusik erklärt sich aus einer ähnlichen Motivlage heraus. Die Mutterbindung war ausgeprägt, und offensichtlich viele positiv konnotierte Erlebnisse der Kindheit im böhmischen Haus der Großeltern mütterlicherseits haben sich nachweislich in die Kindheitserinnerungen eingegraben. Da erscheint es folgerichtig, dass sich ein böhmisches Idyll als Ausgleich zur mährischen Realität anbot. Ob und inwiefern sich die Anleihen im späteren Werk des Komponisten tatsächlich auf böhmische Weisen beziehen lassen, muss hier offen bleiben, subjektiv gesehen war die böhmische Volksmusik eine ‚mütterliche‘ Gegenwelt zum Alltag der ‚väterlichen‘ Gesellschaft in Iglau, die in mehrfacher Hinsicht Feindseligkeiten bereit hielt. Die künstlerische Bewältigung traumatischer Ereignisse in der Arbeit des Komponisten Mahler ist nicht zu verleugnen, auch wenn sich dadurch ein Klischee über romantische Künstlerbiographien einzuschleichen droht, die der Bewertung des Gesamtschaffens Gustav Mahlers immer wieder enorm geschadet hat. Die Seriosität eines Komponisten bemisst sich in unseren kulturellen Breitengraden aus der Perspektive einer breiten Interessengemeinschaft zwischen Kennern und Musikliebhabern gerne vom Standpunkt einer heroischen Unabhängigkeit im Verhältnis zur Vita des Künstlers. Mit einem ‚Dennoch‘ oder ‚Jetzt-erst-recht‘ wollte so mancher im Publikum – damals wie heute – doch lieber den Sieg der Aufrechten bejubeln und einem Prozess beiwohnen, der uns zeigt, wie man dem Unbill der Niederungen trotzen kann. 1875 starb der zwei Jahre jüngere Bruder Ernst; für den fünfzehnjährigen Gustav Mahler blieb der überraschende Tod mit traumatischen Eindrücken verbunden. 1878 – Mahler hatte sein Studium am Wiener Konservatorium gerade beendet – verfasste er den Text zu einer märchenhaften, dramatischen Kantate mit dem Titel Das klagende Lied.
Mit dem Plan zu diesem Werk über das Märchen Vom Singenden Knochen hatte sich Mahler schon zuvor beschäftigt. 1880 war die Arbeit an der Partitur in der 1. Fassung vollendet. Es lag ein extrem aufwendiges und riesenhaft besetztes Werk vor, das alle gewohnten Dimensionen überstieg, zudem anspruchsvoll in der Ausführung erschien, da die musikalische Sprache ungewohnt und neu war: „Mein erstes Werk, in dem ich mich als Mahler gefunden, ist ein Märchen für Chor, Soli und Orchester: Das klagende Lied! Dieses Werk bezeichne ich als opus 1.“ Das schrieb Gustav Mahler im Jahr 1896, 16 Jahre nach Entstehung der Komposition und 5 Jahre vor der Uraufführung der revidierten Fassung 1901 unter seiner Leitung.
Nach der Vollendung schlummerte das Werk zunächst in der Schublade, nachdem es 1881 erfolglos beim Wettbewerb um den Beethoven-Preis in Wien durchgefallen war. Der Jury gehörten berühmte Persönlichkeiten wie Goldmark, Hanslick und Brahms an. Warum die Komposition auf taube Ohren stieß, ist bis heute unverständlich. Schon 1878 war Mahler vergeblich unter den Bewerbern für diesen Wettbewerb. Robert Fuchs war mit seinem Klavierkonzert 1881 Preisträger, preiswürdig zudem wurden Kompositionen von Viktor von Herzfeld und Hans Fink eingeschätzt. Mahler blieb völlig unbeachtet. Seine Tonsprache war offensichtlich für so manchen Hüter der Romantik doch eher abwegig und singulär. Die Umarbeitung des aufwendigen Werkes wurde verschoben, sicher auch aus Zeitgründen und konnte erst kurz vor der Uraufführung 1901 mit einem Zwischenergebnis abgeschlossen werden. Gustav Mahler hat nur den zweiten und dritten Teil revidiert, der erste Teil blieb unverändert, aber auch unaufgeführt. Da sich die Geschichte des Märchens jedoch nicht ohne den ersten Teil erzählen lässt, kann man davon ausgehen, dass ein konzeptionell und inhaltlich denkender und musizierender Komponist den Plan zur Umarbeitung dieses ersten Teils nur aufgeschoben haben mag. Es wird der Zeitnot und dem frühen Tod Gustav Mahlers geschuldet sein, dass der erste Teil nicht bearbeitet werden konnte. Alfred Rosé, der Neffe Gustav Mahlers, leitete 1934 in Brünn die Uraufführung des unbearbeiteten ersten Teils. Schon seit längerer Zeit wird oft eine Mischfassung musiziert, die revidierten Teile werden mit dem ersten Teil in seiner ursprünglichen Form kombiniert. Ausganspunkt der Thematik im Klagenden Lied ist ein Brudermord aus Neid.
Eine stolze Königin verspricht demjenigen die Hand, der im Wald eine besonders rare und kostbare rote Blume findet und diese zum Schloss bringt. Der jüngere Ritter findet sie umgehend, steckt sie an den Hut, lehnt sich an einen Baum und schläft ein. Der verbissene ältere Bruder findet trotz großem Bemühen keine Blume, jedoch den schlafenden Bruder, ermordet ihn, entwendet die Blume und kehrt mit dieser als Sieger zur Königin im Schloss zurück. Nach einer Weile durchstreift ein Spielmann den Wald, findet einen Knochen, der vermeintlich von einem Tiere stammt. Er schnitzt sich daraus eine Flöte, muss jedoch feststellen, dass diese Flöte zum selbstständigen Instrument wird und den Mörder des jungen Ritters verklagt. Der singende Knochen ist das Gebein des jüngeren Bruders. Der Spielmann zieht weiter und erreicht das Schloss zur Hochzeitsfeier. Die Festgesellschaft bittet ihn aufzuspielen. Als die Klage ertönt, entreißt der neugekrönte König dem Spielmann die Flöte und spielt selbst, worauf die Klage erneut anhebt. Das Verbrechen ist nun offenkundig, der Mörder überführt. Die Hochzeitsfeier endet unrühmlich, die alten Schlossmauern fallen in sich zusammen, eine Welt zerbricht in Trümmern, Glanz und Ruhm verblassen und das System der Habgier endet in Ruin und Elend.
Dass ein explizites Motiv des Brudermords für Mahler eine besondere Thematik darstellte, mag im Hinblick auf die beschriebene Lebenssituation des jungen Mannes und Studenten auf der Hand liegen. Als junger Kapellmeister übernahm Mahler Verantwortung, als er nach dem frühen Tod der Eltern für seine jüngeren Brüder sorgte und später auch mit beiden Schwestern den gemeinsamen Haushalt organisierte. Die familiäre Bindung zu seinen Geschwistern war und blieb eine bestimmende Komponente im Lebensentwurf.
Wenn wir das Ende des Märchens ganz sachlich betrachten, muss uns die Unverhältnismäßigkeit der Dramatik auffallen. Das Finale ist eine Überhöhung der Erzählung und weitet das Fazit der Geschichte ins Allgemeingültige. Dadurch bekommt das Klagende Lied einen besonderen Bezug zum geschichtlichen Kontext der Welt des Komponisten. Missgunst, Neid, Habgier und Machtstreben lagen in der Luft. Imperialer Größenwahn wuchs und patriotische Gesänge wurden benötigt, in Auftrag gegeben und unverhohlen eingefordert. Komponisten wie Brahms, Strauss und Reger haben ihren Tribut gezollt. Mahler eine grundsätzlich pazifistische Absicht zu unterstellen ist sicher weder einseitig noch angreifbar, eine private Motivlage aus familiärer Gesamtsituation allein erklärt aber noch kein Kunstwerk, und Gewalt in Form des Brudermords als Keimzelle des Krieges ist zu allem nicht von der Hand zu weisen und bestimmt im Klagenden Lied das Hauptmotiv des Werkes.
Politische Haltung oder persönliche Befindlichkeit, Bekenntnis oder Bewältigung einer Lebensgeschichte gehen im Kunstwerk ineinander über.
Ohne das Trauma des Geschwisterverlustes – ich will die bekannten psychologischen Theorien hierzu nicht bemühen, vertiefen oder gegenüberstellen – wäre das Interesse am Sujet der Komposition vielleicht nicht so deutlich erkennbar hervorgetreten, die Komposition indes bleibt nicht bei der Reflektion der eigenen Lebensbefindlichkeit stehen.
Eine kompositorische Besonderheit im Werk Gustav Mahlers ist die Gegenüberstellung von Innen- und Außenwelt, wobei die innere Welt als eigentliche Daseinsform verstanden wird, die äußere Welt hingegen oft lautstark von außen hineinbricht oder sich Unheil bringend ankündigt. Die Alltagswelt ist kalt und oberflächlich, pragmatisch und zielorientiert. Mahlers innere Welt ist oft zerbrechlich und indifferent, kleinlaut und voll unerfüllter Sehnsucht, kindlich und verbunden mit der Gewissheit der Nichtwiederholbarkeit.
In der Gestaltung dieser Gegensätze hat der erfindungsreiche Musiker zeitlebens verschiedene Mittel gewählt. Eine im Frühwerk oft gebrauchte Gestaltungmöglichkeit ist das Fernorchester, das auch im Klagenden Lied zum Einsatz kommt, es spielt zur Hochzeitsfeier auf.
Wir, das Publikum und die Geschichtenerzähler in den Soli, im Chor und im Orchester, schauen von fern zu, kommentieren, ziehen Schlüsse und stellen die inneren Vorgänge der Geschichte dar. Draußen jedoch vollzieht sich der Gang dieser Geschichte, passiert die Katastrophe. Vor dem Zusammenbruch der Feier und Festgesellschaft hören wir die Hochzeitsmusik aus dem Palast.Die Musik erinnert an einen Spielmannszug. Das von Mahler gewünschte Instrumentarium entstammt den Militärkapellen Iglaus: neben bekannten Holzblas- und Blechblasinstrumenten und üblichem Schlagzeug spielen Flügelhörner statt Trompeten. Eine Des-Flöte gesellt sich hinzu, dieses Instrument ist in der Tat so selten, dass es als sicheres Indiz gelten kann, dass hier Kindheitseindrücke ‚zitiert‘ werden. Häufiger wurden Es-Flöten in alten Militärkapellen verwendet, nur selten, wie in Iglau, kamen Des-Flöten zum Einsatz. Heute werden sogenannte Trommelflöten in Spielmannszügen verwendet, sie kommen dem Charakter dieser speziellen Militärmusikinstrumente sehr nahe.
Interessant ist der Einsatz dieses Fernorchesters bei Mahler insbesondere dann, wenn es um die Abweichungen der normalen oder zu erwartenden Musik kommt. Das Fernorchester ‚verzählt‘ sich bereits beim zweiten Einsatz, es kommt zu Fehlern beim Notenlesen, moll und Dur wechseln scheinbar unmotiviert, die Fehler lassen das tonale System immer wieder aus der begründeten Tonart herausrutschen.
Die Fragilität des Tongeschlechts ist ein markanter Ansatz in der Tonsprache Mahlers, wie auch die Bevorzugung modaler Harmoniewechsel, die sich aus den ‚Fehlern‘ der Spieler zwangsläufig ergeben. Gewollt oder ungewollt gewinnt die eine oder andere Stelle in der Musik einen orientalischen Beigeschmack, der aber ursprünglich in folkloristischer Absicht in die Komposition eingebaut war.
Dieser Spur, die zwar im Klagenden Lied erstmalig auffällt, aber sich durch das gesamte Schaffen Mahlers ziehen wird, nachzugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich. Dennoch wirft die Beschäftigung mit der Person Mahler und seiner Musik Fragen auf, die bis heute ungeklärt geblieben sind, und die sich beim Verständnis der Werke Gustav Mahlers zunächst auf seine Biographie beziehen, ihren künstlerischen Anspruch aber nicht ausschließlich in der Selbstreflektion einlösen.
Dem Publikum bleibt die Aufgabe, das Werk in den geschichtlichen, biographischen oder politischen Kontext einzuordnen.