Ralph Vaughan Williams (1872-1958) gilt sicherlich als wichtigster Vertreter der britischen Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Schüler von Hubert Perry, Zeitgenosse Edward Elgars, enger Freund von Gustav Holst und Wegbereiter für Komponisten wie Benjamin Britten stand er für die Emanzipation eines eigenen Stils in England, welches zu seiner Zeit von einem deutschen Kritiker noch als „Land ohne Musik“ belächelt wurde. Dabei verpflichtete er sich einerseits den lokalen Traditionen, was sich vor allem in seiner Aktivität als leidenschaftlicher Sammler von Volksliedern zeigt, andererseits war er als Komponist sowie als Dirigent stets den aktuellen Entwicklungen der Musik aufgeschlossen und lies die individuelle Ausdruckskraft nie einem strengen Formengebot weichen. Auch außerhalb der Insel suchte und fand er stets Inspiration: so hielt er sich während seiner Flitterwochen für ein halbes Jahr in Berlin auf, wo er unter Max Bruch an der Königlichen Akademie der Künste studierte, und bewahrte eine enge freundschaftliche Beziehung zu Maurice Ravel in Paris.
Während sein Werk in britischen Konzertsälen ein unverzichtbarer Dauerbrenner ist, hat es sich hierzulande noch zu etablieren. Ab und zu hört man vielleicht eines seiner sinfonischen Dichtungen wie The Lark Ascending, die weltberühmte Greensleeves-Fantasie oder die Thomas-Tallis-Variationen, sein Durchbruchswerk. Andererseits stellen die neun Sinfonien, ein weitgefächertes Repertoire aus großangelegten Bühnen- und Chorwerken sowie seine Kammermusik weiterhin eine Seltenheit dar. Vor allem zur Chormusik fühlte er sich verpflichtet, spätestens nachdem sein Lehrer Parry ihm dessen Signifikanz betonte: „Schreibe Chormusik, so wie es sich für einen Engländer und Demokraten ziemt!“ Diese Kunst war klar mit seinen volksnahen Idealen im Einklang, und sein Leben hindurch war der große Bach-Verehrer (zu seinem Vermächtnis gehört eine ins englisch übersetzte H-Moll-Messe) auch als Chorleiter aktiv. Auch seine erste Sinfonie, The Sea Symphony, enthält ausgiebige Chorpartien, deren Texte Walt Whitmans (1819-1892) Gedichtsammlung Leaves of Grass entnommen waren.
Drei Texte aus der selbigen Sammlung, genauer gesagt aus dem Band Drum Taps, in welchem der amerikanische Dichter seine Eindrücke des dortigen Bürgerkriegs verarbeitete, bilden auch den Kern von Dona Nobis Pacem. Das Auftragswerk der Huddersfield Choral Society wurde in einer Zeit verfasst, in der Vaughan Williams‘ Schaffen sich in einem Tal befand, da es von Selbstzweifel und Desillusionierung bezüglich seiner persönlichen und der gesellschaftlichen Situation umschwirrt war. Die Erinnerungen an dem ersten Weltkrieg, wo er selbst als Sanitäter sowie als Artillerist eingesetzt wurde, lagen 1936 zwar bereits zwei Jahrzehnte zurück und wurden vor allem in seiner dritten Sinfonie und dem apokalyptischen Oratorium Sancta Civitas verarbeitet; doch auf dem europäischen Kontinent bahnte sich bereits der nächste Konflikt an, der diese Erinnerungen wieder hervorrief. Man mag vom Titel her vermuten, dass es sich um ein geistliches Werk handelt, bildet jene Passage doch den Abschluss der katholischen Messen-Liturgie. Allerdings fungiert diese hier nur als Referenzrahmen eines musikalischen Weckrufs, der eine strikte Trennung des Geistlichen vom Weltlichen aufsprengt. Ob man das Stück als „zugegebenermaßen patriotisch“ bezeichnet, wie es der Williams-Biograph Michael Kennedy tut oder als Anti-Kriegs-Kantate sieht, wird es doch oft als geistiger Vorgänger des etwa 25 Jahre später erschienen War Requiem von Benjamin Britten gesehen, darüber mag ein kurzer Überblick Aufschluss geben.
Die engelhaft vom Sopran gesungene Titelpartie leitet das Werk ein, wobei sich schon ein bedrohlicher Unterton dem Agnus Dei aus der lateinischen Liturgie untermischt. Man stelle sich vor, man befindet sich in einer Kirche mit einem Gefühl des Unbehagens. Dann verlässt man die heilige Stätte und ist dem kriegerischen Treiben der Welt ausgesetzt, welches hier im zweiten Teil von dem Whitman-Gedicht Beat! Beat! Drums repräsentiert wird: Das idyllische Alltagsleben wird brutal unterbrochen: „Achtet nicht auf die Ängstlichen, […] den Weinenden oder den Betenden“, denn es herrscht Krieg! Diesem „Aufrüttler“ folgt ein im wahrsten Sinne des Wortes versöhnender langsamer Teil mit dem Titel Reconcilation, der den zur Vernunft kommenden Gedankenprozess eines Kriegsteilnehmers verzeichnet: im Krieg erkennt er die Schönheit im Vergänglichen und erkennt seinen verstorbenen Feind schließlich als „göttlich wie ich selbst“ an. Ein drittes Whitman-Gedicht, Dirge for Two Veterans, wird in Form eines fast an Mahler anklingenden Marsches vertont. Dieser Teil wurde bereits 1911 komponiert und solange beiseitegelegt, bis er hier eine zeitgemäße Verwendung fand. In dessen Zentrum steht ein Erzähler, der ein Kriegsbegräbnis beobachtet und ein einsichtiges, spirituelles Erlebnis hat, was von dem akzentuierten Orchester unterstützt wird. Mit Militärmusik-Verweisen und textlich starker Symbolik marschiert es auf eine persönliche Offenbarung hin. Inmitten einer vorerst „traurigen Prozession“ wird man letztendlich zur Akzeptanz des Geschehens geführt, und zu einer Liebe, die allen Teilnehmern gilt: „Oh meine Soldaten, meine Veteranen, mein Herz gibt euch Liebe.“
Anschließend, im fünften Teil, wird diese Entwicklung mit einer damals sehr bekannten politischen Rede des House-of-Commons-Mitglieds John Bright aufgegriffen (nach Williams eigenen Angaben, das einzige Mal, dass eine Rede aus dem britischen Parlament vertont wurde), ein Relikt aus einer Zeit als solche Reden noch als Kunstform galten. 1855 mahnte dieser mithilfe von biblischen Referenzen vor einer englischen Teilnahme am Krimkrieg. Die Form der Mahnung wird direkt mit Bibelzitaten fortgesetzt, vor allem kommen vorerst die Propheten des Alten Testaments wie etwa Jeremias Klagelieder zu Wort, bis im sechsten Teil eine Wendung stattfindet, wo durch und durch optimistische Bibel-Zitate in einer Collage vereint werden, die eine verheißende Prophezeiung bilden, mündend in einen triumphierenden, von vollem Orchester und Glocken unterstützten „Hosanna“, oder auf englisch: „Glory to God in the highest!“ Das Stück endet wieder im Dona Nobis Pacem der Einleitung, welches dem achtsamen Hörer auch innerhalb des Stücks aufgefallen sein wird – ein Friedensruf der nach den erwähnten Aufwirbelungen nun dankbar überzeugend klingt.
Man kann also von einer Passage vom Dunkel ins Licht sprechen – ähnlich wie in Williams‘ früher Vokalkomposition Towards the Unknown Region, die ebenfalls einen Whitman Text zur Grundlage hatte, und sich mit einer solchen metaphysischen Reise auf persönlicher Ebene beschäftigt. In Dona Nobis Pacem wird eine solche individuelle Transformation, dargestellt in der Dramaturgie der drei Whitman-Gedichte, auf einen universellen Friedensprozess umgedeutet, der in den letzten beiden Teilen gespiegelt wird. Ob der Krieg, oder zumindest die Akzeptanz dessen als Teil der menschlichen Erfahrung, hier als Faktor dargestellt wird, der für eine solche Entwicklung positiv gedeutet werden kann, das soll der Hörer selbst ergründen. Williams, der sich sein Leben hindurch als Agnostiker positionierte, verstand seine Musik nämlich als Methode, um die unsichtbaren Dinge sichtbar zu machen – so sagte er gegen Ende seines Lebens zu einer Gruppe junger Studenten: „Musik wird euch ermöglichen, jenseits der Tatsachen die Essenz der Dinge zu erblicken, wie es die Wissenschaft nicht zustande bringt“.
Auch auf weltlicher Ebene spiegelt diese Kantate den progressiven Idealismus des Komponisten wieder, so war er inmitten von inter-europäischen Turbulenzen der frühen Weltkriegsjahre ein Befürworter einer Staatengemeinschaft: „Ich hoffe, dass es die Vereinigten Staaten Europas geben wird, der alle Völker (inklusive Deutschland), die nicht an Gewalt glauben, angehören werden. Kein Völkerbund, aber eine Union, für die alle Völker einen Teil ihrer Souveränität aufgeben – ihre Individualität und Nationalität in ihren eignen Angelegenheiten bewahrend.“ Im Lichte gegenwärtiger Entwicklungen und Konflikten auf europäischer sowie weltpolitischer Ebene muss man kaum noch erwähnen, dass Ralph Vaughan Williams‘ künstlerische und humanistische Ansprüche nichts an ihrer Aktualität verloren haben.