Im Gesamtüberblick des kompositorischen Werkes von Felix Mendelssohn Bartholdy können wir unterschiedlich umfangreiche Werkgattungen ausmachen, die wie Säulen im Nachlass das erstaunliche Ausmaß der Arbeit widerspiegeln.
Die Chormusik hat im Werkkanon dieses Komponisten eine herausragende Bedeutung, auch wenn die Würdigung des Oeuvres nicht immer diesem augenscheinlichen Umstand Rechnung getragen hat.
Vergleicht man die Anzahl und künstlerische Komplexität der Chorwerke mit den Liedkompositionen (für Singstimme, Singstimmen und Klavier), so verstärkt sich der Eindruck einer überdurchschnittlichen Gewichtung im Schaffen Mendelssohns zugunsten der Chorwerke.
Große Vokal-Komponisten des 19. Jahrhunderts wie Schubert, Schumann oder Brahms haben ein prägendes und Maßstab setzendes Schaffen in der Gattung „Lied“ hinterlassen. Und natürlich muss man feststellen, dass auch Schubert und Brahms auf dem Gebiet der Chormusik bahnbrechende Werke geschaffen haben, die eine besondere und weit über die Epoche ihrer Entstehung hinaus prägende Entwicklung der deutschsprachigen Chorszene initiierten. Dennoch: Der Ausgleich in vokalen, zwischen einer instrumental begleiteten solistischen Singstimme im Lied, und dem Gesang in polyphonen und homophonen Chorsätzen, ist bei seinen Zeitgenossen sichtbar, kann jedoch auf Mendelssohn nicht angewendet werden. Die Motivation scheint hier der Schlüssel zum Werk, der Auftrag wird zum Anlass, und mit dem Komponisten Mendelssohn verbinden sich andere Funktionen des in der Pflicht stehenden Musikers Mendelssohn.
Diese an sich barock anmutende Verknüpfung verschiedener Arbeitsmotive erklärt das außerordentliche Gewicht geistlicher Werke im Chormusikschaffen. Es erklärt zudem die unterschiedliche Qualität, die Unterschiedlichkeit der emotionalen und künstlerischen Intensität der einzelnen Werke.
Die liturgischen Vorgaben Friedrich Wilhelms IV. gängelten die Arbeit seines Generalmusikdirektors und bedrängten den Komponisten in seiner Pflicht, Musik abzuliefern, die nicht dem eigenen künstlerischen Anspruch entsprachen.
Der Choral „Herr Gott, dich loben wir“ ist ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit widrigen Vorgaben, entstand 1843 für einen Gottesdienst unter Mitwirkung des Königlichen Domchores zu Berlin und musste unter unerfreulichen Umständen in kürzester Zeit fertig gestellt worden sein. Die antiphonalen Strukturen des Gemeinde-Wechselgesangs mussten eingehalten werden, wie auch die per königlichem Edikt erlassene Besetzungsvorschrift.
Der veränderte Text ist als deutsche Übertragung des lateinischen „Te Deums“ von Martin Luther überliefert und in die Liturgie hoher protestantischer Feste eingegliedert. Die wenigen Möglichkeiten der modalen Choralmelodie in hypophrygisch und die textlich und musikalisch sich schnell erschöpfenden, jedoch langwierigen und wie in Litaneien ergehenden Wiederholungen des Originals, sind eine Herausforderung für einen kreativen Musiker.
Mendelssohn nutzt die künstlerische und musikalische Differenzierung im Rahmen seiner eng gesetzten Grenzen, unterteilt die Antiphon in fünf Abschnitte, die sich um Unterscheidung bemühen, nutzt die Kirchentonart des musikalischen Ausgangsmaterials mit den Mitteln der „modernen“ Harmonisierungen zur Verschleierung der tonalen Richtung und erinnert in einigen Momenten an alte Vorbilder der barocken Choraltradition und der Renaissance-Polyphonie durch das Aufgreifen stilistischer Elemente der Musikgeschichte, die insbesondere an Bach anknüpfen.
Die großen kompositorischen Vorbilder Bach und Händel begleiten das gesamte Leben des jungen Musikers und stehen auch Pate bei den großen Psalmvertonungen.
Die Pflicht der Leitung des Königlichen Domchores ist Last und Inspiration zugleich. Die Verwendung strenger Imitation und das besondere Interesse am Kontrapunkt, der jedoch in einen unverwechselbaren Personalstil verwoben ist, durchzieht das Kompositionsprinzip der großen vielstimmigen Chorsätze und Motetten. Achtstimmige, höchst anspruchsvolle Werke in Vollendung romantischer Chorpolyphonie kennzeichnen die Gestalt der unbegleiteten geistlichen Chormusik, die sich zwischen Bachkantate und Händel-Oratorium verortet, an die großen Werke dieser beiden Komponisten anknüpft und die Entwicklung dieser Tradition quasi fortschreibt. Im 115. Psalm findet sich eine kurze achtstimmige, unbegleitete Chor-Reminiszenz dieser großartigen und kunstvollen Motettentechnik, die für Mendelssohns Stilistik der geistlichen a-cappella-Werke so bezeichnend ist.
So unliebsam manche Auftragskomposition ausgeführt werden musste, so inspiriert begann Mendelssohn seine Arbeit an den fünf großen Psalmvertonungen für Soli, Chor und Orchester, die ideenreich und mit geistig durchdrungenem Bekenntnis beseelt, aber ohne dezidiert erteiltem Auftrag zwischen 1830 und 1843 komponiert wurden. Der 95. Psalm galt Mendelssohn als besonders gelungenes Beispiel seiner Gattung. 1838 geschrieben und in Leipzig 1839 uraufgeführt, wurde die Partitur 1841 umgearbeitet und bereits 1842 veröffentlicht. Die Komposition greift in die Anordnung der Verse des Psalms ein und verändert seinen dramaturgischen Aufbau zugunsten einer geschlossenen musikalischen Gestalt, die innerhalb der Sätze inhaltliche Bezüge sucht und hörbar macht.
Der bereits erwähnte 115. Psalm entstand als erste große Psalmkomposition zwischen 1829 und 1844, wobei zunächst der lateinische Text vertont wurde, jedoch anlässlich der Drucklegung einer ersten Fassung von 1835 vom Komponisten selbst ins Deutsche übersetzt wurde. Der Titel indes wurde bewusst in lateinischer Sprache belassen. Innerhalb der sechsjährigen Entstehungszeit lässt sich die stilistische Entwicklung der Chorkompositionen verfolgen, die zu einem Prototyp der oratorischen geistlichen Chormusik Mendelssohns wurde. Hier wurden sozusagen Keimlinge gezogen, die in späteren großen oratorischen Werken aufblühen konnten.
Im Eingangssatz wird eine Choralbearbeitung behauptet, deren Choralmelodie zwar frei erfunden ist, jedoch Hörer-Assoziationen weckt und den neugierigen Konzertbesucher zu einer fantasiefreudigen Spurensuche anregt.
1830 verließ Mendelssohn Berlin das erste Mal, nachdem die Reformationssinfonie am 12. Mai vollendet war und sich neue Herausforderungen boten.
Die Reisejahre führten nach Italien und Großbritannien.
Über Düsseldorf und Leipzig kam Mendelssohn kurzfristig wieder nach Berlin, verließ die Stadt seiner Familie jedoch enttäuscht sehr schnell wieder in Richtung Leipzig.
Die unzusammenhängenden Berliner Jahre sind dennoch markiert von prägenden Stationen in der Arbeit um die Kirchenmusik, die sowohl im Leben des Komponisten, wie auch in der Musikgeschichte seiner – man muss es leider sagen – „ungeliebten“ Stadt deutliche Spuren hinterließen. Heute ist das musikalische Berlin sehr wohl denkbar ohne die Erinnerung an den religiösen Eiferer und Moralisten Friedrich Wilhelm IV., den Arbeitgeber eines Generalmusikdirektors ohne künstlerisch herausfordernden Zuständigkeitsbereich. Der berühmte Arbeitnehmer des Königs hingegen darf in der Musikstadt Berlin nicht fehlen.