Lacrimosa – ‚Das Tal der Tränen‘ – ist ein liturgischer Part in der Mitte des Requiems, der tiefste und intimste Punkt im Verlauf des Ordinariums der Totenmesse. Es ist der Ort des Innehaltens und der Trauer nach der Finsternis und den Schrecken des ‚Dies irae‘, aber auch zugleich ein Wendepunkt, der den Weg der Hoff nung bis zum ‚Lux aeterna‘ sichtbar macht. Der Ausblick, das ‚Licht am Ende des Tunnels‘, ist die Intention, Motivation und das Ziel des Textes. Die Verzweifl ung am Karfreitag ist mit der österlichen Verheißung unmittelbar verbunden. Ohne diesen Grundsatz christlicher Heilslehre ist der liturgische Text nicht zu verstehen.
Dass mit dem ‚Lacrimosa‘ die ‚Sequenz’ innerhalb des Requiems zum Abschluss kommt, hat viele Komponisten zusätzlich inspiriert. In der Geschichte der Requiem-Kompositionen finden wir oft gerade zu diesem Text sehr berührende und künstlerisch beachtliche Musik. Bemerkenswert ist, dass eine besonders anrührende Komposition zum Lacrimosa auch von hervorgehobener Bedeutung ist. Die letzten Takte in seinem Leben komponierte Mozart am Lacrimosa seines unvollendeten Requiems.
Das heutige Konzert refl ektiert über diesen liturgischen Part der Totenmesse, löst ihn aus dem Zusammenhang des Requiems heraus und lässt Mozart am Ende des Konzertes ein vielleicht sehr persönliches Gebet anstimmen. Das ‚Miserere nobis‘ am Ende der Litanei KV 243 ist musikalisch mit dem Beginn des Kyrie verbunden. Das ist eine übliche kirchenmusikalische Praxis der damaligen Zeit. Genau genommen wird in einer Messe dieser Gestalt das ‚Kyrie‘ mit dem ‚Dona nobis pacem‘ des ‚Agnus Dei‘ zu einem Kreis geschlossen. Neben der dramaturgisch sicher sinnvollen Praxis ist der pragmatische Faktor ‚Zeit’ ein entscheidendes Kriterium. In aller Regel musste das jeweilige Ordinarium zu einem bestimmten Anlass eilig fertiggestellt werden. In einigen Messen von Joseph Haydn wurde das ‚Dona nobis pacem‘ gar nicht extra notiert.
Mozart hingegen separiert das ‚Miserere‘ vom ‚Agnus Dei‘ deutlich, in dem er auf die besonders einprägsame und emotional hervorgehobene Musik des ‚Kyrie‘ zurückgreift. Die Melodiebögen dieses Th emas werden dem Zuhörer konkurrenzlos im Gedächtnis bleiben.
War man zunächst überrascht ob der musikalischen Schlichtheit und Schönheit der Melodie, ist man jetzt ergriff en, weil der Rückgriff auf diese leicht verständliche und leicht eingehende Musik sie selbst zum Hauptmotiv des gesamten Werkes erklärt. Nachdem das ‚Agnus Dei‘ einen Doppelpunkt setzt, erscheint sie nunmehr wie ein Motto der gesamten Litanei und ist nicht nur die Wiederholung aus Mangel an neuen Ideen. Wir erkennen erst jetzt den Grund für die herausgehobene Bedeutung des emotional persönlichen Tonfalls der Musik zum ‚Kyrie‘, denn der Text des Miserere scheint mit dieser Musik eindeutiger verwachsen zu sein als mit dem ‚Kyrie‘ zu Beginn. Diese Musik richtet sich direkt an seine Zuhörer, ohne Schnörkel und Virtuosität. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Mozart diesen Eff ekt der persönlichen Aussage zufällig hat eintreten lassen und lediglich die Tradition bediente.
Vielleicht ist diese sakrale Musik ein Schlüssel zum religiösen Selbstverständnis des Komponisten Mozart, der zwar Aufträge zur geistlichen Musik erfüllen konnte aber auch unabhängig von den liturgischen Notwendigkeiten der Kirche ein ‚Herr, erbarme dich unser‘ zur Herzensangelegenheit erklären konnte. Wenn jedoch ein Miserere persönlich ausfällt, muss das ‚Tränental‘ auch individuell durchschritten sein. Und so ist das Miserere nicht nur die Antwort auf das Lacrimosa, sondern die Hoff nung einer Schlussfolgerung, die eine Erfahrung voraussetzt.
Die Biographie des Komponisten Francis Poulenc ist ebenso spektakulär wie ungerade. Der Autodidakt aus gutbürgerlichem Hause studierte Jura, weil ihm die Aufnahme an das Pariser Konservatorium versagt wurde, nahm privaten Kompositionsunterricht bei Charles Koechlin und schloss sich bald – durch Fürsprache Cocteaus – der Groupe des Six an, die sich um den unkonventionellen Eric Satie versammelte. Das scheinbar unbekümmerte Leben wurde 1936 durch den Unfalltod seines Freundes, des Komponisten Pierre-Octave Ferraud, erschüttert. Erst die Wallfahrt zur schwarzen Madonna von Rocamadour half ihm, den Verlust zu tragen.
Der Besuch dieser Madonna brachte die entscheidende Wende seines Lebens. Poulenc fand zu den Wurzeln seines Glaubens zurück, ohne all das verleugnen zu müssen, was seine Persönlichkeit zuvor ausgemacht hatte; er wurde zum katholischen Paradiesvogel seiner Zeit, ‚halb Gassenjunge, halb Mönch‘. Diese Etappe seines Lebens und Wirkens nennt er später selbst ‚Poulenc 37‘. Die Jahreszahl bezeichnet den Beginn einer Schaff ensperiode, die durch ein umfangreiches Werk geistlicher Musik geprägt ist. 1937 entsteht ein Werk für Frauenchor und Orgel – später für Streichorchester und Pauken – die ‚Litanies à la Vierge noire‘, das zunächst singulär erscheint, im Rückblick jedoch der außerordentlich markante Beginn einer Entwicklung tiefer Religiosität ist, die fortan das musikalische Schaff en begleitet oder gar prägt.
War die Komposition zunächst eine Möglichkeit, der eigenen Trauer Raum zu geben, nachdem die Zufl ucht zur ‚Gottesmutter‘, mit der Bitte um Beistand verknüpft, die nötige Stille für die Suche nach dem Ort der Tränen off enbarte, so wurde dieses Werk Zentrum und Ausgangspunkt einer künstlerischen Perspektive im Werk des Komponisten. Seine Litanei verklingt nicht mit resignativer Klage. Das Ende des Werkes ist berührend, weil es off en bleibt. Das Tal der Tränen ist ein notwendiger Ort der Trauer, aber keine Endstation. Es ist gleichzeitig der Anlass zum Neubeginn.
Das Orchesterstück ‚Lacrimosa‘ knüpft an diese Motivvorgabe an. Es ist am Ende ebenso off en im Ausgang wie Poulencs Litanei. Die musikalischen Prozesse bleiben in Bewegung – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Das ‚Lacrimosa‘ soll einmal Teil eines größeren Zusammenhangs werden. Als ‚Fremdkörper‘ soll es die Mitte bilden in einer Musik zu einem ganz anderen Text: dem ‚Stabat Mater‘.
Musikalisch-rhetorische Motive werden polyphon übereinander geschichtet. Unterschiedliche, teils kontroverse Argumente geraten in musikalischen, voneinander völlig selbstständigen Gesten und Linien in einen instrumentalen Diskurs, der ohne kontrapunktische Lösungen auskommt. Die Auseinandersetzung bemüht sich gleichsam um teils sachliche, teils emphatisch emotionale ‚Wortmeldungen‘, die teilweise mit musikalischsprachlichen Mitteln unserer Zeit formuliert werden. Die Diskussion mündet in zwei Zitate, die ihren Ausgang ebenfalls off en lassen. Der österliche Choral ist quasi noch auf dem Weg, und die Melodie des Marienliedes hat ihre Adressatin möglicherweise auch noch nicht erreicht. Aber wir sind auf dem Weg, und der Impuls der Reise ist die Energiequelle des Lebens.
Das Licht im Tunnel ist nur dann Ansporn zur Bewegung, wenn wir den Tunnel kennen, den wir durchqueren müssen, und wissen, dass dieser uns letztlich ans Licht geleitet. Das Leben als Reise zu verstehen, die auf dem Weg musikalischen Halt gebietet und verschiedene künstlerische Stationen einlegt, um dann auch wieder weiter zu ziehen, ist nur dem zu eigen, der auch Loslassen kann.
Harald Weiss ist ein Komponist, der nicht nur weit gereist ist und in vielen Ländern (auch außereuropäischen) zuhause war. Harald Weiss hat sich im Loslassen geübt:
„Bei der Auswahl der Texte habe ich mich von der Idee des ‚Loslassens‘ treiben und inspirieren lassen. Es erscheint mir als einer der wesentlichen Aspekte beim Sterben, aber auch im Leben. Viel zu sehr klammern sich die Menschen an etwas einmal Erreichtes, seien es nun materielle oder ideelle Werte oder seien es auch Beziehungen jedweder Art. Wir können und wollen davon nicht loslassen, so, als hinge unser Leben davon ab.
Da wir das Loslassen spätestens in der Stunde des Todes praktizieren werden, könnten wir vielleicht im Leben schon einmal damit beginnen.“(H. Weiss: Vorwort zum Requiem, Schott-Verlag)
Das Prinzip, sich auf die unterschiedlichen Stationen einer Reise wirklich einzulassen – was ja nur gelingen kann, wenn man zuvor losgelassen hat – führt gelegentlich in eine Identitätskrise. Dies ist ein Phänomen, das jeder Künstler, der gerne und viel unterwegs ist, wenigstens einmal in seinem Leben erfahren wird.
„Man kann es auch als Katharsis bezeichnen. Wie auch immer, meine ‚neuerliche‘ Beschäftigung mit dem ‚alten‘ Land ließ es mir nicht zu, dort anzuknüpfen, wo ich als kühner Student die musikalischen Parameter der so genannten Neuen Musik traktierte.
Es musste ein anderer Ansatz sein, ein ganz behutsamer Ansatz, der sich wieder ins Abendland vortastet, ein Ansatz, der die Tradition wieder aufnimmt und versucht, sie ganz vorsichtig zu entblättern und ihnen den Atem der Gegenwart einzuhauchen. Wissend, dass ich damit nichts Revolutionäres oder gar Skandalöses auslösen werde, bin ich dennoch sehr zuversichtlich, weil ich mich mit dem Vokabular in meiner Musik dieses Requiems auf Bahnen bewege, das keinen Ballast, keine komplexen Strukturen transportieren und vermitteln möchte, sondern weil ich vielmehr versuche, mit der Naivität eines ‚Heimkehrers‘ die Botschaft der Texte in Klänge zu formen.“(H. Weiss: Vorwort zum Requiem, Schott- Verlag)
Man kann es als Vision verstehen, wenn der erste Teil unseres Konzertes im ‚Lux aeterna‘ endet und man zu glauben scheint, das Licht am Ende des Tunnels schon ‚greifen‘ zu können. Vielleicht könnte diese Vision als ein Fingerzeig verstanden werden, wenn wir bitten: ‚Herr, erbarme dich unser‘. Vielleicht aber lässt sich der Anspruch auf einen Fingerzeig auch nicht halten. Wir werden diese Frage off en lassen müssen.
Zwischen ‚Lacrimosa‘ und ‚Lux aeterna‘ verortet sich das ‚Miserere‘ als ein liturgisches wie künstlerisches Dokument in menschlicher Not.
Mit Mozart kehren wir im zweiten Teil zum Kern dieser menschlichen Stimme im Kanon der Religionen zurück…… und lassen alles unbeantwortet.