Am 5. Dezember 1757 besiegte im Siebenjährigen Krieg die preußische Armee unter Friedrich II. die österreichischen Truppen in der Schlacht bei Leuthen. Der niederschlesische und heute polnische Ort wurde Schauplatz einer Legende, als am Abend nach der Schlacht über 20.000 Soldaten spontan das Kirchenlied ‚Nun danket alle Gott’ angestimmt haben sollen. Der ‚Choral von Leuthen’ (unter diesem Titel wurde 1933 ein deutscher Film produziert) avancierte zunächst in Preußen, dann im gesamten deutschen Reich zu einer vaterländischen Hymne.
Felix Mendelssohn Bartholdy wählte den Choral inmitten einer Sinfoniekantate, die später als 2. Sinfonie mit der Betitelung ‚Lobgesang’ bekannt wurde und ursprünglich 1840 zu einem Festkonzert anlässlich der Leipziger Vierhundertjahrfeier zur Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg in Auftrag gegeben worden war. Die Verbreitung der Luther-Bibel, die mit der historischen Erfindung einherging, wird in diesem Fall sicher den Anlass gegeben haben, die protestantische Hymne erklingen zu lassen, bevor ein großangelegter, fugierter Chorsatz euphorisch das Finale dieser Sinfonie beschließt. Ohne jeglichen militärischen Bezug behauptet dieser ‚Choral von Leuthen’ im Zusammenhang mit dem ‚Lobgesang’ von Mendelssohn den Charakter und Pathos einer Hymne, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts aber ihren militärischen Bezug nie verlor.
Die Siegesfeiern nach kriegerischen Kämpfen wurden oft kirchlich aufbereitet und mit einem festlichen, musikalischen Te Deum geschmückt. Diese Tradition gab Anlass zu etlichen Kompositionen, die heute zum Kernrepertoire der geistlichen Chormusik zählen. Das reicht bis tief in die Barockzeit aller Nationen. Auch wenn uns ein so merkwürdiger Brauch, der widersprüchlich ist, weil jede Nation im Streit Gott für sich und gegen andere beansprucht, heute völlig fremd ist, wollen wir auf die Musik der in Rede stehenden Werke Händels ebenso wenig verzichten, wie auf gleichlautende Werke beispielsweise von Charpentier.
Die Tradition der geistlichen Überhöhung in protestantischen Siegesfeiern fehlte natürlich auch in Preußen nicht, differenzierte sich jedoch und blieb dem Mythos von Leuthen über mehrere Jahrhunderte treu. Viele Komponisten – darunter Max Reger, Franz Liszt (!) und Sigfried Karg-Elert – übten sich in der geerbten Tradition und im Umgang mit diesem Choral. Das überdauerte quasi epochenübergreifend. Auch als die allgemeine Mobilmachung am 1. August 1914 auf dem Berliner Schlossplatz verkündet wurde, sangen dort kriegsbegeisterte Massen ‚Nun danket alle Gott‘ und Kaiser Wilhelm II. rief den an die Front ziehenden Soldaten am 11. August 1914 entgegen: „Jeden-falls, sollte uns Gott der Herr den Sieg schenken, so bitte ich mir aus, dass der ‚Choral von Leuthen’ nicht fehlt. Nun zieht hinaus mit Gott!“
Wen wird es wundern, wenn Brahms im zweiten Satz seines Triumphliedes op. 55 eine Choralbearbeitung einfügt, die den Choral ‚Nun danket alle Gott‘ andeutet, das Zitat aber meidet. Das besagte Triumphlied ist 1870 entstanden und insbesondere durch die Schlacht von Sedan angeregt. Brahms beendete die Komposition Ende Februar 1871, widmete das Werk Kaiser Wilhelm I. und lies es 1872 uraufführen. Die Textgrundlage ist hauptsächlich der Offenbarung des Johannes entnommen und von ausgiebigen Halleluja-Rufen umrankt. Das patriotische Motiv der Entstehung dieser Komposition findet weder einen direkten Widerhall im außerordentlich meisterhaften und anspruchsvoll ausgearbeiteten doppelchörigen Chorsatz, noch in der ungewöhnlich farbigen Klangsprache des gereiften Komponisten, der weit davon entfernt ist, eine patriotisch-pathetische Feier-Dekoration als Pflichtübung abzuliefern. Brahms begnügt sich mit inhaltlichen Andeutungen und lässt den Bezug zum Anlass seiner Komposition deutlich in den Hintergrund treten, ähnlich wie später auch beim Entstehen der ‚Fest- und Ge-denksprüche op. 109‘, die zu Festlichkeiten im Andenken an große Siege der preußischen Armee konzipiert waren. Das Motiv bleibt indes unbestritten patriotisch, ist aus unserer Perspektive fragwürdig und muss zu Recht historisch hinterfragt werden.
Alle schwarzen Flecken in den Biographien der großen romantischen Musiker – es gibt derer sehr viel mehr, als man üblicherweise vermeint – , müssen thematisiert werden. Wer Probleme ausblendet, wird der geschichtlichen Größe eines Künstlers nicht gerecht. Da sich Brahms jedoch aus dem konkreten politischen Geschehen bewusst und deutlich herauszieht, ist es möglich, ein Werk musikalisch zu würdigen und zu genießen, ohne den Kontext zu verleugnen. So naiv sein gesellschaftlicher Blick gewesen sein mag, ist doch die eigentliche musikalische Arbeit von großer Differenzierung geprägt. Wenn wir den Anlass des Werkes historisch vergegenwärtigen, aber die musikalische Darbietung davon trennen, ist es durchaus möglich, aus dem Sieges-Triumph ein Geburtstagsständchen zu machen, das sich der Chor nun selbst zu schenken vermag. Dadurch verliert die Musik von Brahms ihre ursprüngliche geschichtlich immanente, inhaltliche Schwere und gewinnt aber die meisterhaft leichte Flexibilität im Handwerk der Kunst, aus der die musikalische Sprache des Komponisten eigentlich lebt.
Wer Brahms liebt, braucht nicht auf die Einzigartigkeit seiner Klangwelt zu verzichten und geht reflektierend durch das ungewöhnlich reiche Schaffen des Musikers. Wer den großen Vertreter der deutschen Spätromantik jedoch überhöhen möchte und die moralische Komponente im Einklang dazu benötigt, wird an den Niederungen des Konkreten scheitern und auch das populäre sinfonische Schaffen in Zweifel ziehen müssen, da die Verknüpfung mit unlauteren Motiven letztlich auch im nonverbalen Werk am Schluss nicht endgültig ausgeschlossen werden kann.
Das im Gegenzug unverdächtige Chorwerk Nänie op. 82, entstanden 1880, mag als ein wirklich chorsinfonisches Werk gelten. Es setzt sich mit antiken Themen und Geschichten auseinander, die für das Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert im Alltag noch präsent waren. Es steht damit in der Tradition der großen Oratorienchöre im letzten und vorletzten Jahrhundert, die Dank der Volkskunst- und Volksbühnen-Initiativen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Türen und Tore zur Arbeiterbewegung öffneten, die nun –leider zunächst nur für kurze Zeit – einer breiten Bildungsoffensive und -partizipation teilhaftig wurde. Daran zu erinnern ist uns wichtig, denn hervorgegangen sind wir ja aus der Bewegung der Berliner Volksbühne, als Berliner Volkschor, der nun seit 1974 – also seit 50 Jahren – auch wiederum zu Recht Berliner Oratorien-Chor heißt.