Ghasele ist der Titel einer Vertonung des Gedichtes ‚Schlußlied‘ von Friedrich Rückert aus der Sammlung Wanderung (Zweiter Bezirk-Ghaselen). Die Ghasele an sich ist eine arabische und persische lyrische Gedichtform aus vorislamischer Zeit. Die Blütezeit wird zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert verortet. Das spezifisch deutsche Interesse an persischer Lyrik kam mit Goethe auf. Die Orient-Affinität jedoch steigerte sich im 19. Jahrhundert und hinterließ ein umfangreiches Repertoire neuartiger Poesie. Friedrich Rückert war ein Meister dieser Gedichtform.
Wir leben in unruhigen Zeiten. Krisen, Kriege und Katastrophen pflastern unsere Wege durch eine unsicher und unüberschaubar gewordene Welt, für die wir letztlich selbst die Verantwortung tragen. Der Mangel an Einsicht, dass kluge und vorrausschauende Perspektiven und Strategien allein die Garantie für das menschliche Überleben auf unserem Planeten sichern könnten, belastet das gesellschaftliche Zusammenleben und lässt uns ratlos zurück.
Mit meiner Auseinandersetzung zu brisanten Themen entstanden 2023 und 2024 verschiedene kleine musikalische Einzeltitel. Sie sind für sich abgeschlossen und jeweils einer Person gewidmet sind, an die ich das Gedenken bewahren möchte oder die neue Visionen eröffnete und der ich im Hinblick auf ein außergewöhnliches Engagement großen Respekt erweisen will. Diese kurzen Sätze habe ich in eine Sammlung zusammengefasst und ‚Geminiden 23’ genannt.
In diese Sammlung gehört auch die Komposition der Ghasele. Gewidmet ist die Komposition dem Gründer des Volkschores, Ernst Zander und dem Berliner Oratorien-Chor zum Jubiläum des 120. Geburtstags. Ernst Zander war Zahnarzt und leidenschaftlicher Musiker, gründete 1904 an der Volksbühne den Berliner Volkschor und leitete diesen bis 1937. Vom Chorleiter wurde nach der Ermächtigung durch die Nazis die Mitgliedschaft in der NSDAP erwartet. Dieser Voraussetzung konnte Ernst Zander aus verschiedenen Gründen nicht entsprechen. Mit fadenscheinigen Argumenten, bezogen auf Bestimmungen, die zur Folge hatten, dass nur Berufsmusiker in die Reichskulturkammer aufgenommen wurden, und alle Chöre nach und nach in der Musikkammer organisiert, verankert und gleichgeschaltet sein mussten und dann auch nur von entsprechenden Partei- Mitgliedern geführt wurden, verdrängte man Ernst Zander erfolgreich von der künstlerischen Leitung seines Chores. Diesem engagierten Mann ein Gedenken zu bewahren, ist mir im Hinblick auf das Jubiläum des 120. Geburtstages ein besonderes Anliegen.
Ein weiterer Aspekt in der Auswahl des zu vertonenden Gedichtes blieb mir von Anfang an ein wichtiges Motiv der Komposition. Mit der Uraufführung der ‚Besinnung‘, die als Fragment von Richard Strauss hinterlassen war und die ich ergänzen durfte, hat der Berliner Oratorien-Chor ein spätes und nicht vollendetes Chorwerk des großen spätromantischen Komponisten aus der Taufe gehoben. Zuvor hatte Strauss mit der ‚Deutschen Motette‘ ein Gedicht vertont, das ebenfalls der Rückertschen Sammlung Wanderung entnommen war. Er beabsichtigte, die Serie der Vertonungen dieser Gedichte mit dem ‚Schlußlied‘ fortzusetzen. Diesen Plan konnte er nicht mehr in Angriff nehmen, geschweige denn realisieren. In der Gedichtwahl knüpfe ich daher rückblickend an jüngst erlebte Stationen an.