Die Musikwelt von heute schätzt die Suche nach der originalen Gestalt des Werkes. Historische Aufführungspraxis, stilistische Unverwechselbarkeit und wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse im Vorfeld der Einstudierung sind uns heute unerlässlich, wenn wir barocke oder klassische Literatur musizieren. Bis hin zur Spätromantik sogar reicht die archäologische Spurensuche, die um Werk getreue Rekonstruktion bemüht ist. Es geht um bestmögliche Annäherung an das historische Original. Vor ca. 60 Jahren begann diese Bewegung der ‚Erneuerung‘ der ‚alten Musik‘ und ist heute aus der Konzertpraxis nicht mehr wegzudenken. Die Bestrebung, das wirkliche Original zu finden, hat viele Facetten scheinbar bekannter Werke großer Meister neu ans Licht gebracht und fast allen Werken der großen oratorischen Literatur erfrischend neues Leben eingehaucht. Klischees des 19. Jahrhunderts, die eine frömmelnde Andacht und falsche Demut pflegten, hatten so manches große Werk der Chorsinfonik schal und fade werden lassen.
Der musikalische Historismus ist jedoch ein Phänomen unserer Zeit. Das Primat des Originals ist erst heute erstrebenswertes ästhetisches Ziel. Lange zuvor war der kreative Umgang gleichbedeutend mit Interpretation. Jeder Dirigent schrieb sich – so er konnte – seine eigene Version. Wir kennen die Bach’schen Oratorien in Aufführungsvarianten von Schumann und Mendelssohn, Schumann-Sinfonien in Versionen von Gustav Mahler, Beethoven–Sinfonien mit Korrekturen von Richard Wagner.
Die großen barocken und klassischen Opern und Oratorien wurden durch jeweilige Bearbeitungen einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Harmoniemusiken (Bearbeitungen für Bläserensembles) sorgten für die populäre Verbreitung beliebter Arien und Ensembles aus Opern.
Ein großes Werk musste vor seiner Wiederaufführung nicht selten noch einmal die Werkstatt seines Schöpfers passieren. Händels Messiah ist hierfür ein sehr gutes Beispiel. 1741 komponiert, wurde dies populäre Werk Händels zur Uraufführung in Dublin im April 1742 enthusiastisch gefeiert und lies weitere Aufführungen folgen. Für jedes Konzert hat Händel Varianten neu geschrieben, die sich pragmatisch den Gegebenheiten anpassten. Aus einer Arie wurde ein Duett, aus einem Chor ein Arioso usw. Stets waren die Besonderheiten der Ausführenden zu berücksichtigen. Striche und Ergänzungen gab es, wenn es entsprechend motiviert war. Es ist anzunehmen, dass kein Konzert dem nächsten glich.
Die Verbreitung des Messias im europäischen Ausland verlief auch mit Hilfe von Bearbeitungen. Der Berliner Messias im Dom vom 19. Mai 1786 wurde von Johann Adam Hiller bearbeitet und realisiert, wenig später bearbeitet Mozart in Wien den Messias in einer deutschen Übersetzung von G. van Swieten. Diese Bearbeitungen sind die berühmten jener Zeit und sie haben einen wesentlich Anteil an der rasanten Verbreitung und Popularität des Messias.
In unserer Aufführung werden wir die heute allgemein bekannte Instrumentierung Händels berücksichtigen, jedoch den Werkstattcharakter der Komposition bemühen, denn unsere Strichfassung, die auch Varianten einer späteren Version aus Händels Hand verwendet, ist dem Anlass inhaltlich angeglichen. Der weihnachtliche Teil des Oratoriums überragt im heutigen Konzert den Passionsabschnitt deutlich.
Für Händel wären diese ‚Eingriffe‘ durchaus üblich gewesen. Man bedenke, dass es noch kein Urheberrecht in unserem Sinne gab. Anhand der beschriebenen Praxis der Umarbeitung dürfen wir vielleicht auch davon ausgehen, dass wir Händels Verständnis hätten.
In der Orchesterbesetzung getreu und um ‚originale‘ musikalische Stilistik bemüht, spielen wir heute unseren Messiah in einer jahreszeitlich aktuellen Strichfassung und hoffen, dass keine Lücken entstehen, die ein schmerzliches Vermissen auslösen.