In einem Brief vom 21. Februar 1828 an den Verlag Schott in Mainz verweist Schubert auf eine Liste mit eigenen Kompositionen, die er für besonders wertvoll hielt und die bislang keine Würdigung der Veröffentlichung in Druck oder Aufführung erfahren hatten.
Neben drei Opern, preist Schubert hier insbesondere seine As-Dur-Messe und die 1825 begonnene C-Dur-Sinfonie, die ‚Große‘ an, wobei der Namenszusatz natürlich nicht von Schubert selbst ist und lediglich die Unterscheidung zur 6. Sinfonie D. 589 verdeutlichen soll.
Bis zu dieser besagten 6. Sinfonie ist die numerische Reihenfolge der Sinfonien geschichtlich gesehen unproblematisch, die letzten beiden Sinfonien, die ‚Unvollendete‘ in h-moll sowie die große C-Dur wurden bis zum Ende des letzten Jahrhunderts mit wechselnden Nummer geführt.
Lange Zeit glaubte man an die Existenz einer – möglicherweise verloren gegangenen – Sinfonie, der so genannten ‚Gasteiner‘ Sinfonie, die im Sommer 1825 entstand und als 7. Sinfonie bezeichnet wurde, die von Schubert bewusst unvollendet gebliebene Sinfonie in h-moll erhielt die Nummer 8 und die große C-Dur Sinfonie wurde mit der krönenden Nummer 9 ausgezeichnet, eine Sinfoniezählung, die seit Beethoven eine wahre Mythologie in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts beschwor.
Die Missverständnisse beruhen auf einer irreführenden Datierung des Autographs.
Schubert hatte das Manuskript der großen C-Dur-Sinfonie auf den März 1828 datiert und damit eine lang anhaltende Ratlosigkeit und Spekulation in der Forschung bis ins späte 20. Jahrhundert ausgelöst. Verschiedene Dokumente und Briefe aus dem Jahr 1825 bezeugen die intensive Arbeit an einer großen Sinfonie. Wie man heute, nach näheren, umfassenden Untersuchungen des vorhandenen Materials weiß, beziehen sich diese Dokumente tatsächlich auf die große C-Dur-Sinfonie. Im Sommer 1825 begonnen, wurde der Hauptpart des Werkes auch im nämlichen Jahr komponiert, in den Jahren 1826-1827 jedoch mehrfach überarbeitet.
Sie war für ein Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien gedacht, dass offensichtlich nie zustande kam, eine Schicksalswendung, die sich wie ein roter Faden durch das traurige Leben des Franz Schubert zieht.
War im Todesjahr 1825 eine Überarbeitung geplant, sollte die Umdatierung den Eindruck der Aktualität erwecken? Wir werden diese Frage nie beantworten können, ahnen jedoch, wie sehr diese Sinfonie eine Herzensangelegenheit ihres Komponisten war, die nachträglich zum großen sinfonischen Nachruf wurde. Schubert hat sein umfangreiches Vermächtnis nie in einem Konzert erleben können, war sich dennoch bewusst, dass er mit diesem Werk handwerklich wie inhaltlich den Gipfel seines sinfonischen Schaffens erreicht hatte. Auch wenn es nur die ‚8.‘ wurde, brauchte Schubert den Vergleich mit diversen 9. Sinfonien posthum nicht zu scheuen.
Unser heutiges Konzert hat in mehrfacher Hinsicht Projektcharakter. Zum 175. Todestag von Franz Schubert sang der Berliner Oratorienchor zusammen mit hardChor "ELLA" die As-Dur-Messe. Auch heute zur Es-Dur-Messe ist hardChor "ELLA" wieder dabei. Im besagten Konzert vom 18. Mai 2003 erklang zudem die ‚Unvollendete‘ – nach heutiger Zählung 7. Sinfonie.
Zum 150. Todestag von Franz Schubert gab der Berliner Oratorienchor ein Konzert in der Philharmonie. Auf dem Programm vom 16. April 1978 stand zum einen die 6. Sinfonie. Zudem wurde neben der Es-Dur-Messe, das ‚Tantum ergo‘ und das B-Dur-Offertorium gesungen, beide Werke galten lange als verschollen.
In Anknüpfung an diese Konzertprogramme meines hoch geschätzten Vorgängers Gert Sell, möchte ich diese kleine Tradition fortsetzen. Nach der 6. und (heute) 7. Sinfonie, erklingt nunmehr die letzte Schubert-Sinfonie (heute die 8. genannt).
Bezogen auf den Brief an den Verlag Schott in Mainz vom 21.2. 1828 mag die Umdatierung der großen C-Dur-Sinfonie auf März 1828 vielleicht verstanden werden, interessant ist zudem die ausdrückliche Erwähnung der As-Dur-Messe, die Schubert auf die Liste der angebotenen Werke setzte. Von seiner letzten großen Messe wird in diesem Brief natürlich noch nichts erwähnt.
Im Frühjahr des Jahres 1828 erhielt Schubert jedoch über seinen Bruder Ferdinand vom im Aufbau befindlichen Verein zur Pflege der Kirchenmusik der Wiener Vorstadtgemeinde Alsergrund den Auftrag, eine Messe zu schreiben. Beachtenswert ist die Parallelität der geschichtlichen Ereignisse, 1827 war Beethovens Leichnam in jener Alserkirche eingesegnet worden.
Neben der Es-Dur-Messe entstanden auftragsgemäß drei weitere liturgisch gebundene Werke: das Intende voci in B (Offertorium), das Tantum ergo in Es und ein ‚Hymnus an den heiligen Geist‘ D 948.
Ähnlich wie im Konzert vom 16.4.1978, werden wir heute den geschichtlichen Anlass, den Kompositionsauftrag quasi rekonstruieren. In der zweiten Hälfte unseres Konzertes werden das Offertorium ‚Intende voci‘ und das ‚Tantum ergo‘ die Es-Dur–Messe einrahmen.
Diese letzten sakralen Werke hat Schubert, der sicher im Einklang mit dem Verein als Auftraggeber an einer neuen Konzeptionierung der Kirchenmusik arbeitete, nicht mehr erlebt.
Die Uraufführung dieser Werke leitete Schuberts Bruder in der Alserkirche am 4. Oktober 1829.
Neben der deutlich erkennbaren sinfonischen Struktur der Messe, überrascht und beschäftigt uns die inhaltliche Auseinandersetzung Schuberts mit der Vertonungsvorlage des Messtextes, bzw. seine Auslassungen.
Eine Zusammenstellung der Vertonungs-Auslassungen aller 6 Schubert-Messen zeigt eine interessante und stringente Entwicklung. Den Text et unam sanctam catholicam et apostolicam Ecclesiam hat Schubert nie, das et exspecto resurrectionem wurde in fünf Messen gekürzt, was interessanterweise aus dem Satz ‚Ich bekenne eine Taufe zur Vergebung der Sünden und erwarte die Auferstehung der Toten‘ eine ,Vergebung der Sünden der Toten' werden lässt, nachdem zunächst der Glaube an eine heilige katholische Kirche im Bekenntnis schlicht ignoriert wird.
Die letzten beiden Messen, die auch die bedeutenden und großen Schuberts sind, haben eine einheitliche Textvorlage, sie verzichten im Gloria auf suscipe deprecationem nostram. Qui sedes ad dexteram Patris, auf den eingeschobenen Zusatz Jesu Christi nach tu solus altissimus. Im Credo wird auf den Zusatz Patrem omnipotentem nach in unum Deum verzichtet, ebenso auf den Satz Genitum, non factum, consubstantialem Patri. Der Zusatz ex Maria Virgine wird hingegen im Zusammenhang mit dem Satz Et incarnatus est de Spiritu Sancto wieder verwendet.
Dienen die Textkürzungen im Gloria der inhaltlichen Konzentration, so kann im Credo die Bekenntnisabsicht des Komponisten kaum übersehen werden. Dennoch gaben genau diese Auslassungen Anlass zu diversen Erörterungen und Kontroversen bis in unsere heutige Zeit. Plumpe Entschuldigungsversuche wie ‚Vergesslichkeit‘, ‚falsche Vorlagen‘ oder ‚schlechte Lateinkenntnisse‘ beschädigen leichtfertig die außerordentlich gebildete Persönlichkeit des Komponisten Franz Schubert.
Unbestritten können wir heute im Eingriff auf liturgische verbindliche Textvorlagen die ganz persönliche Bekenntnisabsicht des Komponisten erkennen; Schuberts religiöser Standpunkt verortet sich zwischen den Polen des tradierten aufgeklärten Katholizismus und den Impulsen des sich formierenden deutschen Idealismus seiner Zeit.
Im letzten Lebensjahr Schuberts finden sich Psalmkompositionen, die ganz ausdrücklich für die Synagoge und den Oberkantor Salomon Sulzer geschrieben wurden. Hatte sich Schuberts Religionsverständnis geweitet, hatte sich ein Herzenswunsch zur Verständigung seinen Weg gesucht? Wir werden diese Frage nicht beantworten, dennoch erstaunt das außerordentliche Gewicht, das Schubert dem Agnus Dei und dem Dona nobis pacem widmet, es ist überproportional im Vergleich zu den anderen Sätzen der Messe.
In einem Brief an seinen Bruder Ferdinand vom 21. September 1824 schreibt Schubert:
„Du herrlicher Christus, zu wie viel Schandthaten mußt du dein Bild herleihen. Du selbst das gräßlichste Denkmal der menschlichen Verworfenheit, da stellen sie dein Bild auf, als wollten sie sagen: Seht! die vollendetste Schöpfung des großen Gottes haben wir mit frechen Füßen zertreten, sollte es uns etwa Mühe kosten, das übrige Ungeziefer, genannt Menschen, mit leichtem Herzen zu vernichten?“
Mit der Enzyklika ‚Motu proprio‘ rügte Papst Pius X. 1903 die Textauslassungen in den Messen seit der Wiener Klassik. Das hatte so manche Bearbeitung verschiedener Kompositionen zur Folge. Auch die Es-Dur- Messe erfuhr ihre ‚liturgische Vervollständigung‘, selbstverständlich wurde dieser künstlerische Eingriff auch bald wieder revidiert. Wie auch immer die katholische Amtskirche zu ihren Verirrungen steht, die Kirchenmusik und auch die Gläubigen haben schon so manchen Pius unbeschadet überstanden.