„Es gab wohl keine Auff ührung, die mit so großen Opfern erkauft worden war. Wie oft hatte er von neuem, von vorn begonnen, war vor Schwäche zusammengesunken, aber jetzt spielten und sangen sie. Hört nur, ihr Menschen im Konzentrationslager, wir haben durchgehalten, sind nicht zurückgewichen, nicht unterlegen. Und wir haben es geschaff t, jetzt kommen die anderen an die Reihe, die Verfl uchten! Ihre Verbrechen werden gezählt. Der Tag nähert sich, an dem sie vor dem gerechten Gericht der gesamten Menschheit stehen werden.“
Josef Bor, Theresienstädter Requiem
Im September 1943 erhielt Raphael Schächter (1905-1945), ein tschechisch-jüdischer Dirigent, von der SS im Ghetto Theresienstadt den Befehl, Verdis Requiem einzustudieren. Über die genauen Hintergründe dieses Auftrags lässt sich auch heute nur mutmaßen, fest steht, dass es in Theresienstadt, einem Lager, in dem sich viele namhafte Musiker und Komponisten befanden, regelmäßig Konzert- und Opernauff ührungen gab, die von SS und Lagerleitung immer wieder zu unterschiedlichen Zwecken genutzt wurden, unter anderem auch, um dem Besuch einer internationalen Delegation des Roten Kreuzes das angeblich normale Leben der Juden im Ghetto vorzuführen.
Schächter war in Theresienstadt bekannt, es war ihm bereits gelungen, „Die verkaufte Braut“ von Smetana und einige andere Opern aufzuführen, Ereignisse, die in den Schilderungen Überlebender eine wichtige Rolle spielen.
Er stellte einen Chor von ungefähr 150 Sängerinnen und Sängern zusammen und versuchte aus den zur Verfügung stehenden Instrumenten und Musikern nach besten Möglichkeiten ein Orchester zu formen.
Kurz nach der Premiere wurden, mit Ausnahme der Solisten und des Dirigenten, fast alle Auff ührenden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Unbeirrt stellte Schächter ein weiteres Ensemble zusammen, das nach wenigen Auff ührungen dasselbe Schicksal erlitt.
Mit dem dritten und letzten Ensemble, sehr viel kleiner als die vorangegangenen, manchmal nur mit einem Klavier zur Begleitung, gab er insgesamt fünfzehn Konzerte, so auch eines für die Lagerleitung und ihre Besucher.
Die Novelle „Theresienstädter Requiem“ des tschechischen Schriftstellers Josef Bor (1906-1976) greift diese Episode auf. Bor war selbst Häftling in Theresienstadt, wurde von dort aus 1944 nach Auschwitz deportiert und überlebte Zwangsarbeit und Todesmarsch. Vermutlich kannte er Schächter und hat zumindest eines der Konzerte auch gehört. Bor verdichtet, verknappt und nimmt sich die literarische Freiheit, einige historische Details zu verändern, um sich in seiner Schilderung ganz auf den Dirigenten und dessen inneres Erleben konzentrieren zu können.
Bei Bor liest sich der Beginn folgendermaßen:
„Schächter konnte sich genau an den Augenblick erinnern, als er sich dazu entschloss, das Requiem von Verdi einzustudieren. Lange hatte ihn dieser Gedanke gelockt und gereizt. Er wollte die Verlogenheit der perversen Ideen aufdecken, die von reinem und unreinem Blut, von höheren und minderwertigen Rassen sprachen, er wollte es gerade an der Kunst und in einem jüdischen Lager zeigen, wo man den wirklichen Wert eines Menschen am besten erkennt. Ein buntes Gemisch wollte er brauen; sollten sie nur hören kommen, was für eine Kunst sich aus so einem „Cocktail“ machen ließ.“
Er schildert die Suche nach den passenden Solisten und die Verzweifl ung angesichts der Realität des Lagerlebens: an einem einzigen Tag werden drei seiner vier Solisten deportiert. Zwar sind Künstler anfangs von den Transporten freigestellt, nicht aber ihre Familienangehörigen.
„Sie hätten hierbleiben können, nur ihre Angehörigen allein fortgehen lassen sollen. Doch die Menschen besaßen keinen Verstand, wenn ihr Herz befahl, wenn die Familie rief.“
Schächter kämpft um sein Stück und die Auff ührung und alle kämpfen um ihr Überleben, immer wieder illustriert der Text des katholischen Requiems die Leiden und Schmerzen der Ghettobewohner.
In der Auseinandersetzung mit einem alten Mann, der ihm die Wahl eines katholischen Stückes als unpassend für Juden vorwirft, gelangt er zu der entscheidenden Erkenntnis, wie das Requiem in dieser historischen Situation von Juden für Juden aufzuführen sei.
„Es durfte also kein christliches Requiem sein, das er hier einstudieren wollte, ein solches würde keinem Kraft verleihen. Ein ganz anderes Requiem mit dem starken Glauben an die geschichtliche Gerechtigkeit noch hier auf dieser Welt sollte es werden. Nur ein solches Requiem konnten sie im Lager singen, nur ein solches Werk verstand der Gefangene. Ob Jude, Christ oder Dissident – Für sie würde er ein Requiem auff ühren, wie sie es noch nie gehört hatten.“
Tatsächlich hatte es im Vorfeld der Auff ührung Auseinandersetzungen zwischen Schächter und Mitgliedern des Ältestenrates, der innerjüdischen Verwaltung des Ghettos, zu der unter anderem Leo Baeck zählte, um eben diese Frage gegeben: im Ghetto, in der Zeit der Verfolgung und Ermordung, sollte keine katholische Totenmesse zur Auff ührung gebracht werden. Stattdessen forderten sie Chorwerke mit explizit jüdischen Inhalten, die
außerhalb Theresienstadts schon lange nicht mehr gespielt werden durften, um solcherart ein Bekenntnis zum Ausdruck zu bringen.
Schächter jedoch sah sich und seine Kunst in einer Tradition, die weitaus umfassender war, und fand mit seiner Interpretation letztlich einen Weg, den Triumph des Geistes über die Brutalität der Verfolger und Mörder zum Ausdruck zu bringen.
Nicht nur Bor schildert das sehr eindrücklich; auch Überlebende, zu ihren Erinnerungen an die Auff ührungen befragt, bringen das zum Ausdruck.
Marianka May, eine der überlebenden Sängerinnen, zitierte Schächter mit den Worten:
„Dies ist unsere Art, zurückzuschlagen, wir sind ihnen überlegen – wir haben eine Vorstellung von Hochkultur – das Verdi-Requiem ist ein unübertreffl icher Akt des Widerstandes (…) Wir können den Nazis ins Gesicht singen, was wir ihnen nicht sagen dürfen.” (zitiert nach „The Story of the Defiant Requiem – Verdi at Terezin. The Voice of Chorus America, Fall 2008.)
Die letzte Auff ührung, die im Buch beschrieben wird, ist die vor dem Lagerkommandanten und seinen Besuchern, zu denen auch Eichmann gehört. Eichmann soll gehöhnt haben, die Juden sängen ihre eigene Totenmesse.
Schächter, aufgefordert das Stück auf eine Stunde zu kürzen, beginnt mit dem Recordare und verändert das Libera me, den letzten Teil.
„Genug des Jammers, gebot die Hand des Dirigenten und reckte sich in die Höhe. Ohne Taktstock, zur Faust geballt. Und schlug zu! Die Trommel donnerte, die Pauke lärmte, das Blech rasselte, die Sänger schrien gellend, und mit ihnen rasten auch die Solisten, jetzt konnten sie nicht mehr schweigen. (…) Das letzte „Dies irae“! Der Tag des Zorns ist gekommen, wir haben ihn erlebt. Eure Armeen sind zerstückelt, so wie ihr uns zerstückelt und zerrissen habt, Bäche von Blut spritzen aus Euren tiefen Wunden, und euer Land birst und bricht im Krachen und Qualm von Tausenden niedergefallenen Bomben. Dies geschieht zu Recht, nicht aus Rache oder Hass, sondern allein der menschlichen Gerechtigkeit wegen.“
Das „Libera me“ wird zu einer leidenschaftlichen Forderung – nicht der Verzweifl ung, sondern ein Ruf nach Freiheit und Gerechtigkeit und letztlich der Triumph über die Häscher. Im Herbst 1944 werden Schächter und die anderen Theresienstädter Künstler nach Auschwitz deportiert. Die meisten von ihnen überleben nicht. Nach Zwangsarbeit in Auschwitz-Monowitz stirbt Schächter entkräftet auf dem Todesmarsch nach Westen.
(zitiert aus: Josef Bor, Theresienstädter Requiem. Berlin 1975)