Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kunstbegeisterte!
Dieses ist nur ein kurzer Auszug aus meinem demnächst erscheinenden siebenbändigen Werk: “De Organisationis Brüllerantibus et Altera“ oder „Über Chöre und andere Geräuschquellen“.
In Zeiten der elektronischen Datenverarbeitung, der Handys, i-Pods, Digitalradios und GPS-Navigation, wird es Zeit, den Chorbetrieb wie wir ihn kennen etwas geanuer zu betrachten und sich angesichts der archaischen, ja geradezu rituellen Vorgehensweisen und Umgangsformen, die man immer noch in den Ensembles erleben muss, Gedanken zu einer zeitgemäßeren Gestaltung zu machen. Absicht ist, die Künstler des Gruppengesanges und ihr vorturnendes Führungspersonal einer glorreichen und strahlenden Zukunft entgegen zu führen.
Erlauben Sie mir einige Betrachtungen über das in dieser Richtung Denkbare und dessen Implikationen.
Wissen wir nicht alle, wie die Sänger bei jeder Probe und jedem Auftritt allein durch den Kampf mit dem Notenmaterial gequält und psychisch oft an den Rand des Wahnsinns getrieben werden? Haben wir nicht schon Sopranistinnen erlebt, in Tränen aufgelöst, weil die Taktzahlen fehlen? Und Tenöre am Rande des Selbstmordes, weil sie den Text oben statt unten suchen müssen? Ganz zu schweigen von den unzähligen akustischen und optischen Qualen, weil der Dirigent nicht zu sehen oder nicht zu verstehen, die Noten im Halbdunkel nicht zu erkennen oder vom Vorgänger total durch unsinnige Eintragungen verschmiert sind. Eigentlich ist man ja erpicht auf direkte Komunikation, Verständlichkeit und Zuwendung, wenn irgend möglich.
Und sehen wir nicht immer wieder die tragische Pein der Dirigenten, die schluchzend unter das Pult zu kriechen versuchen oder zum Hechtsprung in den Orchestergraben ansetzen, weil sie sich mit sieben verschiedenen Druckausgaben des Werkes in den Reihen der Sängerschaft schlicht in einer Schlangengrube von Verwechslungen geworfen fühlen?
All so etwas ließe sich möglicherweise vermeiden bzw. doch lindern, wenn man zur konsequenten Einführung des Elektronischen-Noten-Verfahrens überginge. Gibt es doch längst E- Bücher, warum nicht auch E-Musiknoten, E-Partituren, E-Chorstimmen?
Zunächst ist da natürlich der unvergleichliche Vorteil des reduzierten Gewichtes: keine zentnerschweren Klavierauszüge, keine gelenkzermürbenden, im entscheidenden Augenblick aus der Mappe rutschenden Chorpartituren mehr, nein, nur ein einfacher kleiner E-Noten-Reader, handlich zu verstauen und nur wenig schwerer als eine Butterstulle, jederzeit in der vom Chorleiter gewünschten Höhe und Schräglage halt- und tragbar. Ja, sogar ein um den Hals zu tragendes Gestell mit Halterung ist denkbar, welches beide Hände frei lassen würde für die nach Wunsch der Stimmbildungspädagogen so wichtigen Gestikulationen, bzw. in die Luft zu werfenden Schleiertücher. Es gibt kein raschelndes Umblättern mehr! Lautlos schieben sich die neuen Zeilen auf dem Reader hinauf oder auch hinunter. Die Seiten werden durch elegantes Fingerstreichen oder Tippen lautlos bewegt. Wer Leseprobleme hat, kann sich die Noten vergrößern, eigene Merkzeichen setzen oder wieder entfernen, störende Texte anderer Stimmen können ausgeblendet werden usw.
Ebenso wäre schlagartig die Diskussion über das ästhetische Äussere der Mappen durch die einheitliche Form der Reader erledigt und das Format normiert, in Farbe, Größe und Gewicht. Ein weiterer Vorteil: Die Lesegeräte lösen das Problem der defizitären Beleuchtung ganz automatisch. Die neuen Modelle wirken ja als Lichtquellen und sogar die Grundfarbe des Blattes ist wählbar. Wenn man sie an passender Stelle auf selbstleuchtend schaltet, ergeben sich ungeahnte Effekte.
Möglich wäre sogar z. B. die Darbietung in plötzlich völliger Dunkelheit, nur Gesichter im Widerschein schwebend über tiefer Finsternis, hier aufscheinend, dort verschwindend, ergäben mit Sicherheit einen reizvollen Effekt.
In diesem Zusammenhang erinnere ich an meine seinerzeit zum Patent angemeldeten selbstleuchtenden Dirigentenhandschuhe, welche dabei als Ergänzung unzweifelhaft eine Bereicherung darstellen können.
Einzelne Passagen des Werkes ließen sich durch An- und Auschalten der Selbstleuchtefunktion der Lesegeräte oder farbliche Unterscheidung der sich auf die Gesichter ergießenden Hintergrundfarben auch für den Zuschauer optisch verdeutlichen und entwickeln, das Fugenthema quasi als rote Spur durch die Reihen verfolgbar, die Koloratur nunmehr auch tatsächlich als funkelndes Farbenspiel dargestellt.
Himmelblau jauchzende Sopräne kontrastieren auf das Reizvollste mit den dämonischen Bässen in Tieflila, während der Alt seine phrygischen Sekunden Migränegrün vorträgt. Der Chorvortrag quasi als Mittler zwischen Light-Show, Ballett und musikologischer Erläuterung, der Dirigent als Nureyew der Tonkunst, ausgewählte Altstimmen als optische Version der jungen Schwänlein, usw… der Entwicklung sind keine Grenzen gesetzt.
Die Organisation wird natürlich wesentlichst erleichtert: Die Beschaffung des Notenmaterials entfällt, der Archivar arbeitet gemütlich am Computer, die entsprechenden Arrangements, Partituren, Klavierauszüge oder Stimmen können einheitlich herruntergeladen werden.
Den eigentlichen Innovationsschub jedoch verspricht man sich vom IEDOM, dem Integrierten-Elektronischen-Dirigenten-Operations-Modul, natürlich drahtfrei als WLAN zwischen der DIRIPOKO (Dirigentenpodestkonsole) und den Readern zu schalten. Dadurch kann der Leiter per Knopfdruck für jeden Einzelnen oder auch bestimmte Gruppen sofort auf dem Display den nächsten Einsatz warnend sichtbar machen, etwa durch Blinken. Niemand wird in der Probe mehr fragen „WO????“, kein Mißverständnis ist möglich, kein wildes Suchen und Blättern mehr nötig, falsche Taktzahlen auf dem Müllhaufen der Musikgeschichte!
Selbstverständlich könnte man den Ablauf der Darbietung auf dem Reader durch einen laufenden Cursor verdeutlichen, und niemand wird sich mehr in der Zeile irren oder an der falschen Stelle blättern, wenn er der grünen Notenspur auf seinem Display folgen kann.
Aus pädagogischer Sicht ergeben sich noch weitere Möglichkeiten: man könnte schwierige Stellen optisch hervorheben, durch aufflammende Texte, Symbole und Logos wie: „Achtung, aufwachen!“, „Großes Ritardando!“ oder „Pianissimo, verdammt nochmal!“, vielleicht auch mit Totenkopf oder zuckenden Blitzen, als Laufschrift im Stile der Fernsehnachrichten über die zu singenden Noten einblenden. Desweiteren gäbe es die Möglichkeit für den Dirigenten, per gezielten Knopfdruck den einzelnen Sänger oder Sängerin unauffällig und diskret auf gerade gemachte Fehler hinzuweisen. Ob es tatsächlich nötig sein wird, die von einigen Größen aus unserem Brainpool vorgeschlagenen Konzentrationsintensivierer einzubauen, wird noch erörtert.
Ein solcher Konzentrationsintensivierer könnte zum Beispiel ein leichter Stromschlag bei falschen Tönen sein, möglicherweise gestaffelt in der Voltzahl je nach Stärke des Vergehens. (Übrigens haben unsere Entwickler sich vorläufig und nach Rücksprache mit dem Roten Kreuz dann doch gegen entsprechend dosierte Stiche durch kleine Dolche im Rahmen entschieden. Die Treffsicherheit wäre zu gering und Blutflecken nicht gut für die Chorkleidung).
Diskret kann aber auf jeden Fall der Chorleiter auf den Einzelnen einwirken, schonend für das Gemüt und ganz unauffällig, höchstens für Eingeweihte am gelegentlichen Zucken zu erkennen.
Jedoch, liebe Kunstbegeisterte, lassen Sie uns kühn in unseren Visionen sein und einen Blick in die dann wahrhaftig ultimative Zukunftschormusik werfen: Eine Projektanalyse zeigt, dass es durchaus möglich sein dürfte, die zu singenden Noten mit dem entsprechenden Timbre und Klangfärbung durch den E-Noten-Reader für den einzelnen Choreuten über den eingebauten Lautsprecher akustisch vorzugeben, wodurch sich sicherlich sehr viel kraftraubende Stimmbildungs- und Proben-Zeit und natürlich auch Arbeit ersparen läßt. Also wäre quasi die Übungs-CD direkt in den Reader integriert, und die Sängerin oder der Sänger könnte sich an zweifelhaften Stellen eventuell aus Sicherheitsgründen auf Play-Back umstellen.
Am Syntheziser wird sich die Artikulation des Textes nach Voraussage der Techniker auch in gar nicht mehr so ferner Zukunft einheitlich gestalten lassen. Je nach Wunsch des Dirigenten kann man dann auch leicht die Sprachnuancierungen kontrollieren, also z. B. Latein mit italienischer, deutscher, amerikanischer oder polynesischer Färbung, Englisch mit sächsischem Kolorit oder slawisch geprägtes Französisch. Man denke an die leidigen Cheli, Tschöli oder Zöli-Debatten, die dann entfallen würden! Und man müsste keine Mustersprecher mehr für „Noter père que est au Ciel“ oder „Vá Pensiero“ mehr für teures Geld engagieren.
Nur unverbesserliche Technik-Freaks werden allerdings auf den Tag hoffen, an dem statt der Sängerinnen und Sänger einfach die entsprechend ausgerüsteten Reader auf die Bühne gestellt und abgespielt werden. (Analoges Vorgehen für das Orchester ist allerdings ebenfalls durchaus denkbar und soll in China bereits in der Entwicklungsphase sein!). Es bestünde dann je die Aufgabe des Dirigenten im Konzert im Wesentlichen nur noch im Sichverbeugen und mit entsprechend autoritativer Geste auf den Auslöseknopf am IEDOM zu drücken, was in Anbetracht der bekanntlich wahrhaftig astronomischen Honorare dieser Personen wohl doch eher nicht zu rechtfertigen wäre. Auch verlöre man dabei ja die Gelegenheit, das funkelnde Geschmeide, die kostbaren Chorgewänder und gestärkten Hemdenbrüste beim feierlichen Auftritt vorzuzeigen. Zumindest für die nähere Zukunft sollten wir also doch lieber bei der physischen, entsprechend elektronisch aufgerüsteten Präsenz der Sänger auf der Bühne bleiben.
Dem Höhenflug der elektronisch unterstützten Chorkunst als Erweiterung der Darbietungspalette scheinen aber wirklich kaum Grenzen gesetzt zu sein.
Lassen Sie uns gemeinsam hoffen und streben!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.