Das Deutsche Requiem ist eigentlich gar kein Requiem. Losgelöst von kirchlicher oder geistlicher Bestimmung gibt es viele, quasi poetische Werke, die mit dem Titel Requiem überschrieben sind (siehe Requiem für Migon/Schumann), aber innerhalb der geistlichen Musik ist bis heute die liturgische Bindung an den Kanon der Kirche und die Texte der katholischen Messe festgelegt. Brahms vertonte jedoch ausgewählte Bibeltextedes Alten und Neuen Testamentes in der deutschen Luther-Übersetzung.
Der Bezug auf Luther und die deutsche Bibelübersetzung ist das eigentliche Programm der inhaltlichen Konzeption des Deutschen Requiems. Der Titel bezieht sich deshalb auch ausschließlich auf die vertonte Sprache und will keine Kulturgrenzen ausmachen, wenn auch der Verzicht auf die lateinische Kirchensprache den unbezweifelbaren religiösen Fortschritt aufnimmt, der durch Luther initiiert wurde.
Insofern stellt sich Brahms von vornherein auf die Seite des Reformators, ohne jedoch einen besonderen Programmbezug diesbezüglich behaupten zu wollen. Der altertümliche, nahezu originale Duktus der Sprache lässt zudem die Nähe zum mittelalterlichen Ton des Werkes hervortreten. Die übliche romantische Mittelalter-Affinität bekommt hier dennoch einen deutlichen Hinweis auf Martin Luther. Der Bruch mit der katholischen Messliturgie unterstreicht zudem diesen Aspekt. Dennoch lassen sich viele traditionell verwendete Teile einer Requiem-Komposition erkennen, wir finden ein Dies irae, oder ein Requiem aeternam, ein Lacrimosa oder ein Tuba mirum. Da sich Brahms nicht liturgisch bindet, ist die Behauptung der geistlichen Komposition nur im größeren Zusammenhang zu verstehen, ohne die Kirche -und nur die katholische Kirche kennt die Totenmesse- tatsächlich miteinzubinden. Das Deutsche Requiem ist also auch konfessionell nicht gebunden, und diese Feststellung muss zunächst nicht nur im Hinblick auf die christlichen Konfessionen getroffen werden. Der christliche Heilsbringer, der Messias, den alle Christen Jesus oder Christus nennen, wird nicht ein einziges Mal erwähnt.
Man kann das Werk problemlos synkretistisch hören und verstehen, und wird am Ende getröstet.
1861 beginnt Brahms mit der Zusammenstellung der Texte und komponiert die ersten beiden Sätze. Nach dem Tod der Mutter nimmt er 1865 die Arbeit an dieser Komposition wieder auf.
Eine persönliche Motivation kann also bezogen auf die Art und Weise der Gestaltung unterstellt werden. Die gewählte Form erhält durch den Tod der Mutter und die Trauerarbeit des Komponisten eine authentische Komponente, die es in der Handschrift der Komposition nie wieder verliert.
Hier werden Form und Inhalt zu einer persönlichen Struktur verwoben und wachsen doch über diese hinaus. Über viele Stufen der Entwicklung entsteht letztlich das Werk, wie wir es kennen. Die Uraufführung erlebte diese „vollständige“ Fassung am 18. Februar 1869 in Leipzig.
Sehr bald, im Jahr1871, hatte der Deutsche Bund derweil ausgedient. Der preußische König wurde deutscher Kaiser, und auch Brahms hatte das neue, stolze Reich zu bejubeln. Der deutsche Protestantismus wurde zur Institution.
Neben der wichtigen Rolle der Sprache im Deutschen Requiem, ist auch der deutliche Rückgriff auf kompositorische Satztechniken aus der Zeit des Vor- und Frühbarock zu erkennen. In den großen Mittelsätzen seines überaus populären Werkes tritt die außerordentlich fundierte Auseinandersetzung mit der historischen Musik in den Vordergrund.
Brahms notiert die großen polyphonen Chor-Blöcke in großen Zählzeiten und imaginiert den Interpreten dadurch eine Stilistik der „alten“ Musik. Besondere kontrapunktische Techniken, wie die der häufig verwendeten Engführungen und motivische Verwandlungen der musikalisch-thematischen Arbeit, wie der Augmentation, charakterisieren die drei großen Fugen, die eigentlich keine regelrechten Fugen sind und sich eher einer besonderen polyphonen Strukturierung zuwenden.
In der zweiten Fuge wird zudem ein prototypischer Historismus in die musikalische Satzstruktur eingefügt. Der polyphone Chorsatz basiert von Anfang bis zum Ende auf einem Orgelpunkt im Bass. Dadurch ergeben sich besondere kompositorische Herausforderungen, die nur in besonderer Weise gelöst werden können. Brahms entscheidet sich für eine modal anmutende Sprache, die also das ihm gewohnte Harmoniespektrum erweitert und Stimmführungen präferiert, die den Einbezug von Kirchentonleitern konsequent nach sich ziehen. Der stete Wechsel zwischen Dur und Moll innerhalb eines Taktes unterstützt zudem den Eindruck einer modal gefärbten Harmonisierung. Brahms knüpft an die „alte“ Musik an und überführt sie in seine eigene, romantische Sprache.
Der große Plan des Giganten der romantischen Komponisten wird kontrastierend deutlich, wenn wir die Instrumentierung analysieren. Brahms lässt über eine ungewöhnlich lange Strecke zu Beginn des Werkes nur die tiefen Streicher spielen, die Geigen pausieren. Das Ende des ersten Satzes wird, wie auch das Finale des Requiems, von Holzbläsern und der Harfe dominiert.
Die Übersicht der großen Chor-Fugen ist zudem interessant: Die Exposition der ersten Fuge wird von den Bässen angeführt, die zweite Fuge hingegen beginnt mit den Tenören, der Alt intoniert die dritte und letzte Fuge, worauf der Sopran mit einem großen Solo in den letzten Satz einführt. Es ist eine klangliche Aufhellung zu erkennen, ein musikalischer Weg zum Licht.
Das unterstreicht die tröstende Gesamtatmosphäre des Requiems, die schon durch die Textauswahl einen Fokus auf den Trost der Überlebenden legt. Die besondere Exegese-Absicht des Komponisten ist neben dieser Auswahl besonders auffällig und bedeutend. „…denn du hast alle Dinge erschaffen, und durch deinen Willen haben sie das Wesen und sind geschaffen.“ Durch die herausgehobene Stellung dieses Textes in der Fuge, bekommt das Bibelwort ein besonderes Gewicht. Die Reflektion über dieses Wort lässt uns noch lange nachdenken.
Hier geht es dem Komponisten offenbar um eine neue Komponente der Religion. Humanistische und aufklärerische Aspekte scheinen ihren Weg in die Religion zu bahnen. Das Janusköpfige der Reformation zeigt sich eben auch noch in der zweiten Hälfte der deutschen Romantik, im späten 19. Jahrhundert des sich politisierenden Deutschlands.
(Beitrag zum Konzert Berlin und die Reformation)