Am 16. Juli 1820 schrieb Abraham Mendelssohn an seine Tochter Fanny zum Anlass ihrer Konfirmation, seine vier Kinder hatte er in der Neuen Kirche zu Berlin 1816 evangelisch-reformiert taufen lassen:
‚Wir haben Euch, Dich und Deine Geschwister, im Christentum erzogen, weil es die Glaubensform der meisten gesitteten Menschen ist und nichts enthält, was Euch vom Guten ableitet.’
Dieser Satz allein genommen charakterisiert die Situation vieler Juden in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts und gibt Einblick in die gerade begonnene Entwicklung zwischen Emanzipation und Assimilation.
Die sich dann in den Zeilen von Abraham Mendelssohn anschließenden Sätze stoßen uns heute berechtigterweise ab, jedoch fußt seine Überzeugung auf dem gesellschaftlichen Konsens im Standesbewusstsein einer bürgerlichen Klasse, deren Status im Hinblick auf die jüdische Emanzipation für die Familie Mendelssohn existenziell war.
Ohne hier eine unangebrachte Entschuldigung nahezulegen, muss die Äußerung von Abraham Mendelssohn in Zusammenhang mit diesen geschichtlichen Hintergründen verstanden werden:
‚Was du mir über dein musikalisches Treiben im Verhältnis zu Felix in einem deiner früheren Briefe geschrieben, war ebenso wohl gedacht als ausgedrückt. Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf, während sie für dich stets nur Zierde, immer Bildungsmittel, Grundbaß deines Seins und Tuns werden kann und soll. Ihm ist daher Ehrgeiz, Begierde, sich geltend zu machen in einer Angelegenheit, die ihm wichtig vorkommt, weil er sich dazu berufen fühlt, eher nachzusehen, während es dich vielleicht nicht weniger ehrt, dass du von jeher dich in diesen Fällen gutmütig und vernünftig bezeugt und durch deine Freude an dem Beifall, den er sich erworben, bewiesen hast, dass du ihn dir an seiner Stelle auch würdest verdienen können. Beharre in dieser Gesinnung und diesem Betragen. Sie sind weiblich, und nur das Weibliche ziert und belohnt die Frauen.’
Zunächst muss aus Gründen der wissenschaftlichen Genauigkeit erwähnt werden, dass aus der handschriftlich überlieferten Quelle lange Zeit falsch zitiert wurde, anlässlich einer Ausstellung zu Fanny Hensel wurde 2021 über den Fehler aufgeklärt. Frühere Zitate hatten das Wort ‚immer’ durch ‚niemals’ ersetzt, eine inhaltlich gegensätzliche Bedeutung, die wahrscheinlich auf Leserfehler der Handschrift zurückzuführen sind und später ungeprüft übernommen wurden.
Die rollenspezifische Aufteilung in männliche Gedankentiefe und weibliche Neigung zur Zierde, kann aus den Zeilen des Vaters nicht abgeleitet werden. Auch wenn das Selbstverständnis in der Geschlechterzuweisung jener Zeit anderweitig verbürgt ist, kann es Abraham Mendelssohn nicht unmittelbar und konkret unterstellt werden.
Dennoch muss festgehalten werden, dass er letztlich ein deutliches Berufsverbot aussprach.
Alle Kinder im Hause Mendelssohn erhielten eine gründliche Bildung im Allgemeinen wie im Musikalischen, allein die berufsorientierte Ausbildung blieb Vorrecht des ältesten Sohnes.
Der Unterricht von Felix und Fanny bei Karl Friedrich Zelter verlief differenziert. Felix wurde für die sinfonische und musikdramatische Arbeit geschult, handwerkliches Rüstzeug in Kontrapunkt und Instrumentierung wurden gezielt gefördert und systematisch geübt. Fanny hingegen wurde vorwiegend für die Arbeit an kammermusikalischen Werken vorbereitet. Die Musikszene der zeitgenössischen Gesellschaft stand den Bedürfnissen der bürgerlichen Hausmusik gegenüber. Felix wurde auf Kulturreisen geschickt, Fanny organisierte die teils aufwendigen Sonntagskonzerte im – zugegeben sehr komfortabel ausgestatteten – Gartensaal des Familien- Anwesens in der Leipziger Straße. Bei Engagements von hoch angesehenen Sängerinnen und Sängern, Musikerinnen und Musikern der Stadt Berlin war sie keinem finanziellen Druck ausgesetzt. Indes blieben alle Veranstaltungen im privaten Rahmen.
War der Broterwerb für Frauen von Stand unschicklich, so war die publizierende Autorenschaft einer gebildeten Frau erst recht eine Anmaßung. Der Mann zog in die Welt und kehrte von Erfolg gekrönt heim, die Frau schrieb für den eigenen ‚Herd’.
Gelegentlich wurde das eine und andere Werk aus Fannys Feder den Veröffentlichungen ihres Bruders untergeschoben – es handelt sich vor allem um Liedkompositionen.
1835 verstarb Abraham Mendelssohn. Erst 11 Jahre später wagte die gereifte Fanny Hensel den Widerstand und veröffentlichte 1846 die ersten vereinzelten Werke unter eigenem Namen und wurde darin vom Ehemann und Hofmaler Wilhelm Hensel unterstützt, jedoch vom Bruder in aller Deutlichkeit gescholten.
Viel Zeit blieb nicht, die nun in anderer Hinsicht verstandene emanzipatorische Entwicklung fortzuführen. 1847 während einer Probe zu einem Sonntagskonzert erlitt die Komponistin, Dirigentin und Pianistin einen Schlaganfall und ging ihrem Bruder, der wenig später ebenfalls an einem Schlaganfall verstarb, voraus.
Fanny Hensels kompositorisches Gesamtwerk ist bis heute nicht abschließend erforscht.
Dennoch kann ihr Oratorium nach Bildern der Bibel als ein zentrales Hauptwerk angesehen werden. Als eine Art Requiem für die Opfer der Berliner Cholera- Epidemie wurde das Oratorium 1831 konzipiert, verharrte aber in einem zwar abgeschlossenen, dennoch vorläufigen Status. Der Titel wurde posthum, quasi als Arbeitstitel für die Kölner Uraufführung 1984 unter Elke Mascha Blankenburg gewählt. Eine Titelseite fehlt im Partiturautograph.
Die Vorläufigkeit der Partitur muss auch in Bezug auf die Instrumentation und den geplanten Ablauf der Sätze, die nicht alle nummeriert sind, konstatiert werden.
Das vorläufig fertige Werk wurde im Familienkreis und sicher nicht in der ursprünglich geplanten Besetzung musiziert. Allerdings kennen wir die Umstände dieser Aufführung nicht.
Möglicherweise gab es noch Zweifel bezüglich der endgültigen Fassung, die dann aus Mangel an öffentlichen Aufführungsoptionen nicht realisiert wurde.
Das Libretto basiert auf Worten der Bibel, ist aber textlich frei gestaltet. Der lange Dornröschen-Schlaf des Oratoriums wundert, zumal ein ‚deutsches Requiem’ vor Brahms, archiviert in der Berliner Staatsbibliothek innerhalb der musikhistorischen Rezeption schon Beachtung hätte finden können.
Es ist auffällig, wie lange der Prozess wirklich andauern musste, bis Komponistinnen der ebenbürtige Respekt gezollt wurde. Hier schließt sich die Frage an, ob ein Prozess der Emanzipation denn heute auch tatsächlich an sein Ziel gelangt ist?
Die Absicht, ausschließlich Werke von Komponistinnen aufzuführen, ist auch heute noch eine Ankündigung wert, ein Konzert mit Musik komponierender Männer wäre wohl kaum an sich eine Besonderheit, und dabei rühmen wir uns doch heute, dass die Vielfalt der dirigentischen und kompositorischen Begabungen nicht geschlechterspezifisch aufgeteilt ist. In einem Brief an Goethe beschreibt Zelter voller Bewunderung Fannys Fertigkeiten im Klavierspiel aber fügt anerkennend hinzu, sie spiele ‚wie ein Mann’.
Wie spielt denn ein Mann oder wie komponiert eine Frau? Gibt es weibliche Kompositionen überhaupt?
Fragen dieser Art irritieren beim kurzen Innehalten. Ist doch die musikalische Sprache eine kreatürliche, in jedem Fall menschliche. Der genetisch begründeten, geschlechterspezifischen Zuordnung fehlt heute jede wissenschaftliche Grundlage.
Es muss doch eher behauptet werden, dass der unbestritten eingeschlagene Weg der Emanzipation der Geschlechter noch nicht bis zum Ende gegangen ist, so lange solche Fragen im Umfeld eines Konzertprogramms als relevant erachtet werden. In der musikalischen Sprache gibt es weder den weiblichen Ton noch den männlichen Klang, Frauen und Männer komponieren gleichermaßen in allen musikgeschichtlichen Epochen und in allen Werkgattungen.
Es gibt aber Perspektiven, die ein künstlerisches Anliegen, abhängig vom jeweiligen Standpunkt, innerhalb der Gesellschaft unterschiedlich thematisieren. Und es gibt Zusammenhänge, die einer gesellschaftlichen Bewertung bedürfen und eine Debatte auslösen müssen.
So lange ein Konzert mit Musik von Komponistinnen als programmatisch gilt, muss es Konzerte geben, die eine Auswahl von Werken eingrenzen, die ausschließlich von Frauen komponiert wurden.
Als Lili Boulanger 1893 in Paris geboren wurde, also 46 Jahre nach dem Tod von Fanny Hensel, hatte sich im Hinblick auf die Anerkennung von Komponistinnen weder theoretisch noch praktisch etwas verändert.
Wie Fanny Hensel wurde auch sie in eine hochmusikalische Familie hineingeboren.
Die Mutter war Sängerin, der Vater Sänger, Gesangspädagoge und Komponist und die ältere Schwester Nadia (1887 – 1979) hatte als Komponistin bereits Erfolge gefeiert und verkörperte nach dem sehr frühen Tod der jüngeren Schwester die global bedeutende pädagogische Persönlichkeit in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Liste der prominenten Komponisten, die sich von Nadia Boulanger ausbilden oder inspirieren ließen ist nicht nur ungewöhnlich lang, sie ist auch deshalb beachtlich, weil das Verzeichnis vorwiegend Männer aufzählt.
Dass es sich hier um eine Institution handeln musste, wird schon aus dem liebevollen Beinamen ‚Boulangerie’ ersichtlich, der der internationalen ‚Backstube’ der Schwestern beigegeben wurde.
Tatsächlich konnte sich Lili Boulanger innerhalb der starken Konkurrenz ihrer männlichen Kollegen behaupten und erhielt gegen jeden erdenklichen Widerstand ihrer Zunft 1913 den begehrten Rompreis.
Dabei war der biographische Weg dieser kämpferischen Komponistin nicht auf Rosen gebettet. Sie erkrankte schon sehr früh an einer Magen-Darm-Erkrankung und schweren Lungenentzündung, die beide letztlich einen chronischen und unheilbaren Verlauf nehmen sollten. Zudem beendete der ausbrechende Weltkrieg die gerade stürmisch sich entwickelnde Karriere der jungen Komponistin.
Die kriegerische Gewalt jener Zeit hat Lili Boulanger in ihren Kompositionen reflektiert – nicht zuletzt auch in der Komposition Pour les Funérailles d’un Soldat – und mit der Suche nach neuen spirituellen Impulsen kompensiert, so beispielsweise mit der 1917 vollendeten Vertonung von buddhistischen Gebeten. Im Gedenken an den Vater, der 1900 überraschend verstorben war, komponierte sie ebenfalls 1917 den 130. Psalm. Diese Psalmvertonung wurde eines ihrer Hauptwerke und verbindet die Trauer um den frühen Verlust des Vaters mit den traumatischen Eindrücken des unheilvoll drohenden Krieges und dem Wissen um die eigene, direkt bevorstehende Endlichkeit. Ein Requiem konnte sie nicht mehr vollenden, das Pie Jesu steht stellvertretend für den eigenen Abschied, der in der Komposition eines Requiems den Kreis hätte schließen können. Nach Vollendung des Pie Jesu verstarb Lili Boulanger 1918 in der Nähe von Paris.