Das christliche ‚Pfingsten‘ hat jüdische Wurzeln und ‚ersetzt‘ für Juden-Christen Schawuot, das jüdische Erntedankfest und auch zugleich das Fest der Erinnerung an die Offenbarung der Thora. Mit dem Terminus ‚Heiliger Geist‘ verhält es sich religionsgeschichtlich ähnlich, ruach ha-kodesch ist eine Gottesumschreibung und fasst in hebräischer Sprache den Geist der Wahrheit. Erst später, durch die Lehre von der Trinität Gottes, bekommt der Heilige Geist in der christlichen Kirche das Gewicht der Eigenständigkeit.
Im Neuen Testament berichtet die Apostelgeschichte von der Entsendung des Heiligen Geistes, der auf Apostel und Jünger Jesu zu Schawuot (hier bereits Pfingsttag genannt) in Jerusalem herabkam und ist daher als Gründungstag der christlichen Kirche ein Hochfest im Kirchenjahr. Der gesamte Osterfestkreis des Christentums ist ohne die Kenntnis des Pessachfestes weder religiös noch kulturell erklär- oder denkbar und bleibt ohne Wissen um das jüdische Original unverständlich.
Viele christliche Feste haben einen kulturell oder religiös abweichenden Hintergrund, der zur besseren Verbreitung der christlichen Lehre (Missionierung) vor Ort einfach umgedeutet wurde. Diese ‚Strategie‘ kam den jeweils gewohnten Traditionen entgegen und sollte Konflikte entschärfen. Wie wir wissen, blieb eine Konfrontation jedoch selten aus, was zahlreiche Blutspuren der Geschichte belegen. Ein besonders hartnäckiges, dunkles Kapitel in der Geschichte des Christentums ist der Antisemitismus, der durch die Epochen hindurch jedoch für Christen wahrlich kein Alleinstellungsmerkmal blieb. Mittelalterliche Berufsverbote degradierten Juden im gesellschaftlichen Leben und konstituierten eine Parallelkultur, die es ermöglichte, durch Jahrhunderte nicht nur Angehörige einer Religion zu diskreditieren, sondern ganze Bevölkerungsteile nach Herkunft bewerten zu können, um ihnen letztlich die gesellschaftliche Gleichstellung zu versagen. Auf diesem Hintergrund gestaltet sich das Leben europäischer Juden im 18. und 19. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen Emanzipation und Assimilation.
Die Kindheit des Komponisten Gustav Mahler verortet sich in diesem historischen Konflikt. Am 7. Juli 1860 im böhmischen Kalischt geboren, wächst er nach dem Umzug der Familie in der mährischen Stadt Iglau – einer deutschen Sprachinsel – auf und wird als Gebotspflichtiger nach altem Brauch der Bar Mizwa Mitglied der jüdischen Gemeinde. Diese muss er verlassen und konvertiert zum Katholizismus, als er 1897 zum Direktor der Wiener Hofoper berufen werden soll, der Gipfel einer Dirigentenkarriere, der jedoch für Juden unerreichbar ist. Nach qualvollen Intrigen und dem unverhohlenen politischen Druck des antisemitischen Bürgermeisters Dr. Karl Lueger, der nach dem Zusammenschluss der ‚Christlichsozialen‘ und ‚Deutschnationalen‘ 1897 an die Macht gekommen war, zog sich Mahler zunächst nach Amerika zurück und arbeitete 1907 und 1908 an der Metropolitan Opera Company und mit dem New York Philharmonic, bevor er nach Wien zurückkehrte.
Im Sommer 1906 war seine 8. Sinfonie entstanden (das Komponieren war beinahe ausschließlich der Urlaubszeit vorbehalten), am 12. September 1910 dirigiert Mahler selbst die Uraufführung in München. Es war das letzte eigene Werk, das er noch hören konnte, am 18. Mai 1911 verstarb Mahler in Wien, ein Jahr nach dem Tod Karl Luegers, dem man in Wien ein Denkmal setzte. Zudem wurde ein großer Straßenzug nach dem umstrittenen Politiker benannt, der Ring vorbei an Universität und Oper trug bis 2012 den Namen: Dr.-Karl-Lueger-Ring. Mahlers Denkmal erhebt sich letztlich in den großen Konzertsälen der Welt und lässt die politische Geschmacklosigkeit der großen Metropole versöhnlich hinter sich.
Ein kleines Denkmal ist auch ein Konzert, das sich bewusst inhaltlich terminiert. Mahlers 8. Sinfonie beginnt mit dem Pfingsthymnus Veni Creator Spiritus. Die Dichtung der lateinischen Verse, die auch heute noch zum liturgischen Alltag gehören, werden Hrabanus Maurus zugeschrieben, einem Mönch, Gelehrten, Leiter und Abt der Klosterschule in Fulda und späterem Erzbischof von Mainz. Der Theologe Maurus ist heute durch die Überlieferung zahlreicher Schriften und Bibelexegesen bekannt. In seiner Schrift Leben der Maria Magdalena bezieht er Position zur Frauenordination, da er diese mit dem Apostolat Maria Magdalenas begründet (im 9. Jahrhundert!). Eine weitere interessante Bedeutung muss dem Abt der Klosterschule Fulda in Bezug auf die Entwicklung der Gregorianik zugemessen werden. Nicht nur das Verfassen liturgischer Texte, auch die Verbreitung und Überlieferung dieser Texte in Zusammenhang mit gregorianischen Melodien nach Mailänder Vorbild wird Hrabanus Maurus neben Hildegard von Bingen maßgeblich zugeschrieben. In einer 1908 veröffentlichten Studie des Berliner Kantors Aaron Friedmann mit dem Titel Der Synagogale Gesang stellt der Autor die Behauptung auf, dass „die gregorianischen Melodien sich erheben … auf der Grundlage jüdischer Tempelmusik“. Und weiter: „Durch Kaiser Karl den Großen ward der gregorianische Kirchengesang auch zuerst in Deutschland eingeführt, und zwar in der Singschule der Abtei Fulda.“ Tatsächlich hat Karl der Große entschieden dazu beigetragen, die Verbreitung der Gregorianik und das schriftliche Festhalten in sogenannten Neumen voran zu bringen. Eine flüchtige Analyse lässt die von Friedmann beschriebene Verwandtschaft zwischen gregorianischem Choral und Tempelmusik erahnen, wenn in diesem Zusammenhang von modalen Tonsystemen und der Strukturierung in Tropen und Sequenzen die Rede ist; eine verbindliche Begründung der musikalischen Entwicklung des gregorianischen Chorals in jüdisch tradierter Liturgie lässt sich hiermit jedoch nicht zwangsläufig postulieren.
Indes ist die zeitliche Überschneidung der Veröffentlichung der Studie Friedmanns (1908) im Hinblick auf die Entstehung (1906) und spätere Uraufführung der 8. Sinfonie durch Gustav Mahler (1910) augenfällig und interessant. Es gibt gute Gründe, zu erklären, weshalb Mahler mit Enthusiasmus gerade den Pfingsthymnus des Hrabanus Maurus zur Vertonung wählte. Dieser Hymnus war die Frage auf die Antworten des Finales aus Goethes Faust (2. Teil). In einem Brief an Richard Specht schreibt Mahler:
„Diese Anachoretenszene und den Schluß mit der Mater gloriosa zu komponieren,…….war schon lange meine Sehnsucht; aber ich habe jetzt gar nicht mehr daran gedacht. Da fiel mir zufällig neulich ein altes Buch in die Hände und ich schlage den Hymnus Veni creator spiritus auf- und wie mit einem Schlage steht das Ganze vor mir: nicht nur das erste Thema, sondern der ganze erste Satz, und als Antwort darauf konnte ich gar nichts Schöneres finden als die Goetheschen Worte in der Anachoretenszene!“
Ein weiterer Aspekt ist zudem bemerkenswert. Goethe lässt die Geschichte des Faust – nach einleitenden Szenen ‚auf dem Theater‘ und dem Prolog im Himmel – im Studierzimmer des Gelehrten in der Osternacht beginnen. Der erste Teil der Tragödie beginnt mit dem Scheitern der Erkenntnis, was die Welt im Innersten zusammen hält. Es folgt eine rastlose Suche nach ultimativem Lebensglück- dem Gelehrten durch den Teufelspakt zugesichert. Die Nebenwirkungen der Abenteuerreise erscheinen unübersehbar und fordern sehr bald das erste Opfer. Gretchen verfällt dem Faust, wird schwanger, treibt ab und stirbt am Ende. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an die Mater dolorosa – Maria, die den gekreuzigten Sohn im Schoß hält. Am Ende des 2. Teils begegnen wir der verwandelten Seele des Gretchens im Himmel erneut, wenn sie der Mater gloriosa – das quasi als Pendant gedachte Spiegelbild der Mater dolorosa – als Fürsprecherin Fausts entgegentritt. Hier löst sich die Tragödie und beendet einen Kreis, der dem christlichen Osterkreis (Auferstehung- Himmelfahrt- Entsendung des Heiligen Geistes) vergleichbar scheint. Der Geist der Wahrheit (ruach ha-kodesch), der Heilige Geist kleidet sich in Goethes Erlösungsvision jedoch in ein matriarchalisches Gewand. Es ist der Geist der Liebe, der sowohl bei Goethe als auch bei Mahler in einer Apotheose gipfelt.
Zwei inhaltliche Klammern verbinden die beiden sonst eher unterschiedlichen Sätze der Sinfonie. Das eingefügte Thema im ersten Satz zu Beginn der Durchführung vertont die Worte: Accende lumen sensibus; infunde amorem cordibus („Zünd’ an das Licht den Sinnen, gieß’ ein die Liebe den Herzen“). Diesem Thema werden wir im zweiten Satz musikalisch durchgehend begegnen, es zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten, groß angelegten Satz, der sich in viele Untersätze gliedern lässt. Die Textstelle: ‚infirma nostri corporis virtute firmans perpeti‘ („das Schwache unseres Leibes stärkend durch ununterbrochene Tugend“) folgt der vorgehend zitierten Passage und wird im zweiten Teil auffallend wiederverwendet zu den Worten:
„Uns bleibt ein Erdenrest, uns zu tragen peinlich. Und wär’ er von Asbest, er ist nicht reinlich. Wenn starke Geisteskraft die Elemente an sich herangerafft, kein Engel trennte geeinte Zwientur der innigen beiden: die ew‘ge Liebe nur vermag‘s zu scheiden.“
Hier entsteht die Brücke zwischen beiden Teilen der Sinfonie, hier lässt sich das Motiv Mahlers in der Verbindung beider Textquellen erkennen, und hier kommt es auch zu einer intimen und zugleich zerbrechlich offenen Stelle in der Partitur. Im ersten Satz wird der musikalische Text noch auf beide Chöre verteilt, die Phrase endet nach ausgiebig verbreiteter Kadenz ohne den zugehörigen Akkord der Tonika (Haupt- und Schlussakkord der Tonart), die Phrase bricht ab. Im zweiten Satz hingegen wird der Eindruck des Kammermusikalischen noch erhöht, wenn jetzt der musikalische Teil intimer wird – der Chor 2 in zwei Untergruppen geteilt wird – und die erste Altistin den musikalischen Bogen führend aufgreift. Die oben angeführte Kadenz führt hier in den erwarteten Schluss, wird jedoch überlagert durch den Einsatz des ersten Chores, der in der entsprechenden Molltonart beginnt und das Begonnene bruchlos fortführt. Gerade an diesem Ausschnitt lassen sich noch viele weitere Auffälligkeiten entdecken. Ich will an dieser Stelle aber mit meiner Analyse nicht fortfahren und vertraue der auditiven Vermittlung durch die Musik Mahlers. Dieser ‚Neutöner‘ in seiner Zeit trat nicht spektakulär hervor, war aber im Detail immer vorausschauend, ein Erneuerer nicht als Bilderstürmer sondern als Entdecker und Erfinder. Zudem lässt sich an dieser Stelle der Partitur die Gesamtkonzeption des Werkes ablesen. Kammermusikalische Strukturen sind oft vorherrschend.
„Die beiden Chöre und die von ihnen produzierten Klangmassen treten häufig in den Hintergrund, nehmen am verwobenen Geschehen der Gesangsstimmen nur partiell teil. Von Gigantomanie ist diese Symphonie frei;“
schreibt Hellmut Kühn in seinem Buch zu Gustav Mahler 1982, und man wird ihm Recht geben, wenn man genau hinhört und die Partitur studiert. Das allerdings haben Richard Strauss, Pfitzner und Adorno, der Mahlers Werk als ‚Riesenschwarte‘ abtat, offenbar nicht getan. Auch viele Zeitgenossen ließen sich von dem enormen Aufgebot der Mitwirkenden blenden. Eine ‚Sinfonie der Tausend‘ war nicht die Kompositionsidee. Der Komponist äußert sich unmissverständlich zum Grundgedanken der Komposition:
„Können Sie sich eine Symphonie vorstellen, die von Anfang bis Ende durchgesungen wird? Bisher habe ich das Wort und die Menschenstimme immer nur ausdeutend, verkürzend als Stimmungsfaktor verwendet, um etwas, was rein symphonisch nur in ungeheurer Breite auszudrücken gewesen wäre, mit der knappen Bestimmtheit zu sagen, die eben nur das Wort ermöglicht. Hier aber ist die Singstimme zugleich Instrument; der ganze erste Satz ist streng in der symphonischen Form gehalten und wird dabei vollständig gesungen. Es ist doch eigentlich merkwürdig, daß niemand bisher auf diese Idee verfallen ist – es ist doch das Ei des Kolumbus, die Symphonie an sich, in der das schönste Instrument, das es gibt, seiner Bestimmung zugeführt wird und doch nicht nur als Klang, denn die menschliche Stimme ist dabei doch der Träger des dichterischen Gedankens.“
Die 8. Sinfonie ist kein Event aus heutiger Sicht und kein Spektakel seiner Zeit. „Denken Sie sich, daß das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen.“
Der Gedanke des im Prozess befindlichen, Fließenden greift hier Raum. Wie Urban Münzer und Habakuk Traber in jeweiligen Programmartikeln andeuten, kann die 8. Sinfonie als Mahlers Antwort auf den Parsifal gedeutet werden. Dies bestätigt auch der tiefer gehende Blick in die musikalische Textur in der Bass-Arie des zweiten Teils, die Sechzehntel-Figuren der Streicher, wie auch das stets wiederkehrende Kopfmotiv der Stimme in Oktave und Dezime erinnern an den zweiten Akt des Parsifal. Klingsors Burg ist von Wagner in ein auffällig modernes musikalisches Gewand gekleidet. Dennoch, die ‚Erlösung dem Erlöser‘ will sich hier nicht einstellen. Das Heil entsteht im Nehmen und Geben, im Empfangen und Akzeptieren. Der mütterliche Aspekt der Barmherzigkeit steht der männlichen Tat des Faust gegenüber. Und somit ist diese Sinfonie, auch wenn sie letztlich Alma Mahler gewidmet ist, kein Blumenstrauß zum Hochzeitstag oder eine Muttertagsgabe, diese Musik ist eine Positionierung. Mahler gelingt der Spagat, die zeitgemäßen Konventionen zu verlassen ohne den Geist der Zeit zu verleugnen. Mahlers Musik bleibt daher in seiner Zeit einmalig, eigenständig und abseitig.
Diese Abseitigkeit hat Bernstein in einem Fernseh-Essay untersucht: The little Drummer Boy entstand 1985 und thematisiert ein ‚heisses Eisen‘ der Mahler-Forschung: die jüdische Musik im Werk Gustav Mahlers. Kaum ein Thema wurde musikwissenschaftlich so kontrovers, leidenschaftlich, engagiert und emotional geführt. Die wissenschaftliche Beweisführung ist nach wie vor schwierig. Dennoch geht es um ein Thema, das in der Beurteilung der Person und des Komponisten Gustav Mahler nicht unwichtig ist, wie beispielsweise Julia Spinola in einem Artikel vom 7. Juli 2010 deutlich werden lässt.
Dieses Thema müssen wir indes noch ein weiteres Mal vertagen, es lässt sich nicht kurzfristig klären. Lassen wir unterdessen Mahlers Musik zu ‚Wort‘ kommen. Und lassen wir uns inspirieren von der großen Liebesapotheose des Faust und den Flammen des Heiligen Geistes an Pfingsten, das uns abermals in Erinnerung bringt, auf welchem religiösen Boden das Christentum entstanden ist und wie stark die jüdischen Wurzeln sind, die nicht nur die Kirche blutig bekämpfte.