Über die Geschichte zur Entstehung der Messa da Requiem von Verdi ist hinlänglich geschrieben worden, und es lässt sich bestimmt auch ein weiteres Mal interessant lesen, wie Verdi 1868 zum Tode Rossinis den Plan fasste, ein Requiem für den ersten Todestag zusammen zu stellen: Führende italienische Komponisten sollten je einen Abschnitt beitragen und in einer gemeinsamen Huldigung des Helden der italienischen Oper das aufblühende italienische Nationalbewusstsein musikalisch bekräftigen.
Die ‚Messa per Rossini‘ wurde zwar geschrieben, jedoch nicht aufgeführt. Die Behörden in Bologna blockierten die Realisierung des Projekts und auch zur Einweihung der Rossini-Büste an der Mailänder Scala 1871 wurde das Patchwork-Requiem abgelehnt.
Aufgrund verschiedener Anregungen, beschloss Verdi 1873, seinen ‚Beitrag‘ – das ‚Libera me‘ – als Keimzelle für ein eigenes Requiem zu nutzen. Anlass gab ihm der Tod des berühmten Schriftstellers Alessandro Manzoni am 22. Mai 1873.
Nicht nur Freundschaft war das Motiv für Verdi, die Sache der nationalen Einigung Italiens verband beide Künstlerpersönlichkeiten miteinander, und so ist das Verdi-Requiem mehr als eine Gedenkmesse für einen zu ehrenden Verstorbenen.
Das ‚Opernhafte‘ der Komposition war damals schon in der Kritik. Hans von Bülow beklagt 1874 in einem ausladenden Schmähartikel die ‚neueste Oper im Kirchengewande‘, wird sich später jedoch eines Besseren besinnen, seinen journalistischen Missgriff bereuen und Verdi um Verzeihung bitten.
So viel zur Geschichte der Komposition; bleibt festzuhalten, dass die Diskussion zur Problematik der Opernstilistik des Requiems bis heute kontrovers geführt wird. Ein Blick in die Geschichte des Berliner Oratorien-Chores zeigt, dass sich so manches in der Haltung gegenüber weltlichen, oder gar opernhaften Zügen in Kirchenwerken verändert, entwickelt hat. Ganz zurecht weist Julian Budden in seinem Artikel ‚Verdis Genie in konzentrierter
Form‘ darauf hin, dass sowohl Bach, wie auch Händel, Haydn und Mozart Opernhaftes in die Kirchenmusik getragen haben und – das sei hinzugefügt – dafür oft genug gescholten wurden. Einem heutigen Publikum wird jedoch die Nähe des Verdi-Requiems zur Oper deutlicher erscheinen als entsprechende Werke des Barock oder der Klassik. Wir nehmen heute in der Regel keinen Anstoß mehr daran.
Der frömmelnde, frigide Pietismus in Nordeuropa hat musikalisch gesehen erst im 20. Jahrhundert Früchte tragen können, von denen wir uns heute aber längst erholt haben. Interessant ist ein Blick in unser ‚Archiv‘:
Am Freitag den 29. April 1966 veranstaltete der Deutsche Allgemeine Sängerbund ein Konzert mit dem Verdi-Requiem innerhalb einer Konzertreihe (nicht nur die Konzertreihe gibt es heute nicht mehr). Unter der Leitung von Romo Feldbach sangen der Berliner Volks-Chor (heute Berliner Oratorien-Chor) und der Oratorienchor Neukölln. Es spielte das Berliner Symphonische Orchester, zwei Solisten kamen von der Königlichen Oper Stockholm, die Mezzosopranistin aus Paris, der Bass von der Deutschen Oper Berlin. Sparzwänge gab es off enbar nicht. Dennoch ist die Kritik (Zeitung und Autor konnte ich leider nicht recherchieren) mit einem für uns befremdlichen Titel versehen: „Schlicht war die Messe“, ein Urteil das keineswegs negativ gemeint war: „Doch ist Feldbach zu bescheinigen, dass er die theatralischen Eff ekte der Partitur keineswegs hervorstechen ließ: Man hörte eine vergleichsweise schlichte, ergreifende Totenmesse.
An diese uneitle Konzeption hielt sich auch das Solistenquartett, so wenig aufeinander abgestimmt es im Klang auch sein mochte. Am blassesten blieb die Altistin…, am markantesten trat der helle Trompetenton des Tenors… hervor.“
Die Kritik stellt unverhohlen klar, welche Messlatte angelegt wird: „Denn abgesehen von den hohen Anforderungen…, hat man es auch noch in den idealen Musterauff ührungen durch Karajan und Fricsay im Ohr. Trotz dieser Vergleiche darf jedoch festgestellt werden, dass die Wiedergabe… recht achtbar war. Die Chöre hielten sich wacker bis zum Schluss, und auch das Berliner Symphonische Orchester erfüllte seine Aufgaben tapfer, wenn auch
nicht immer ohne Intonationstrübungen. Gelegentliches ‚Wackeln‘ der Einsätze war dem Dirigenten zum Vorwurf zu machen; er gab manchmal sonderbar zaghaft, um nicht zu sagen: unsicher den Takt, so dass es einige Zeit brauchte, bis alle Betroff enen das neue Tempo aufgenommen hatten.“
Der Dirigent der später folgenden Konzerte wurde hingegen einhellig gelobt: „Gert Sell hatte mit seinem Berliner Oratorien-Chor alle Feinheiten von Verdis Requiem sorgsam einstudiert, vom fl üsternden Beginn über den chromatisch geführten Aufschrei des ‚Dies irae‘ bis zur dramatisch wechselhaften Generalreprise im ‚Libera me‘. Der Dirigent führte in der Philharmonie auch das Symphonische Orchester sinnlich und prägnant zwischen
Klangmystik und eruptiver Raserei. Das Orchester musizierte freudig und aufmerksam, kleine Misslichkeiten aus den Blechbläserreihen einmal zur Seite.“ (Berliner Morgenpost, 7.11.1986)
Besprochen wird hier das Konzert in der Philharmonie am Dienstag den 4.11.1986. Eine weitere Kritik von Hellmut Kotschenreuther erschien am 6.11.1986 im Tagesspiegel unter dem Titel ‚Aff ekt und liturgische Würde‘:
„Auf Verdis ‚Messa da Requiem‘ hat man sich im Norden Europas lange Zeit nur mit Vorbehalten eingelassen. Die Wertung, sie sei ‚Verdis schönste Oper‘ war keineswegs als Kompliment gemeint – sie zielte auf die Opern-Nähe, auf die ‚Aida‘-Anklänge und die ‚Fallstaff ‘-Vorgriff e in der Partitur… An ihrer liturgischen Würde könnten heute nur noch Taubheit, defi zitäre Musikalität oder dürrer Dogmatismus zweifeln.“
Später heisst es: „Denn die von Sell straff und ohne prüde Scheu vor dem dramatischen, früher als theatralisch missverstandenen Eff ekt dirigierte Auff ührung war dem Werk in fast jeder Hinsicht gerecht geworden. Der Berliner Oratorien-Chor machte durch Reinheit der Intonation, korrekte Phrasierung und verständige dynamische Nuancierung vergessen, dass er ein Laienchor ist, und das Symphonische Orchester vergegenwärtigte die ‚Dies
irae‘-Schrecknisse… höchst anschaulich. Den Violoncellisten sei allerdings empfohlen, sich ihre Parts vor der nächsten Auff ührung ein bisschen genauer anzusehen – ihre Versuche, chorisch zu musizieren, missrieten ins Klägliche.“ Zum Solistenquartett gab es in beiden Rezensionen Widerspruch, Herr Kotschenreuther hielt den Sopran für überfordert: „bei der Wiedergabe der dramatischen Episoden näherte sie sich mit heftigem Tremolo zuweilen der Schmerzgrenze.“
Vergleicht man nun die Artikel zu beiden unterschiedlichen Konzerten, wird man einen Wandel im Umgang mit der ‚Opernsprache‘ Verdis wahrnehmen können. Kritik an dogmatischen Vorbehalten wird auch deutlich; wozu dienen jedoch die unnötigen Entschuldigungen, warum ist ein dramatischer Eff ekt missverstanden, wenn er theatralisch gedeutet wird? Die Tonsprache Verdis ist die Sprache eines Opernkomponisten, quasi die Umgangssprache seiner alltäglichen Arbeit. Ist es nicht wichtiger, dass ein Gebet authentisch ist; wozu bedarf es der liturgischen Würde eines Werkes, das ausschließlich für Konzerte konzipiert war? Die Einheit zwischen künstlerischer Idee und pragmatischer Realisierung einerseits, und der Verortung zwischen individueller Bekenntnissuche und kirchlichdogmatischem Rahmen war den Künstlern des 19. Jahrhunderts off enbar geläufi ger als so manchem Zeitgenossen.
Genau genommen ist und war Liturgie für die Kirchen das, was die Dramaturgie für das Theater ist. Ich wüsste nichts einzuwenden gegen Aida-Anklänge im Gotteshaus. Etwas mehr ‚Radames‘ am Altar täte den Kirchen gut und würde der Frömmigkeit keinen Abbruch tun. Das letzte Konzert mit dem Verdi-Requiem und dem Berliner Oratorien-Chor war am Mittwoch den 7. Oktober 1998 in der Philharmonie. Man hatte sich Gäste aus Polen eingeladen, z.B. das Philharmonische Orchester Danzig und einige Solisten.
Der Artikel von Stefan Melle in der Berliner Zeitung vom 9.10.1998 konzentriert sich zur Hälfte auf die Beurteilung der polnischen Gäste. Auf dem Hintergrund der noch enthusiastischen Aufbruch-Stimmung im Zusammenhang der politischen Veränderungen jener Zeit kann hierfür sicher ein guter Grund gefunden werden. Dennoch gibt es Kritik am Orchester und den Solisten; dafür jedoch im Gegenzug Lob für den Chor:
„Dass trotz solcher zum Teil herben Abstriche eine insgesamt hörenswerte Auff ührung zustande kam, daran hatte der Oratorienchor seinen Anteil. Immer wieder mangelte es zwar an gutem Tonansatz und auch -abschluß. Doch das ist eine Hürde, die auch Berufschöre nicht immer nehmen. Über weite Strecken klang der Chor homogen, war er auch farbenreich in einem weiten Spektrum… Gert Sell führte den Abend sicher, darin waren
die Ausreizung tastender Piano-Figuren, die Inszenierung von Generalpausen oder die gemessene Fugengestaltung im Sanctus einige der stärksten Momente. Das gelegentliche Abrutschen des Requiems ins Opernhafte hat Sell nicht gebremst.“
An diese Tradition möchten wir in unserer heutigen Auff ührung anknüpfen. Wir entschuldigen uns nicht für den Mangel an Liturgiewürde und die gar nicht schlichte Schreibweise eines Opern-Komponisten der sich als Agnostiker, nicht als Atheist, an die Kirchenmusik heranwagte und seine Bekenntnissuche in den persönlichen Alltag integrierte. Zur Urauff ührung wurde die Markus-Kirche‚ zu einem prächtigen Theaterraum‘ (Hans
von Bülow). Als später die Scala zur Kirche wurde konnte auch von Bülow dagegen nichts mehr einwenden. Wir freuen uns heute auf ‚Verdis größte Oper‘ und bewundern die tiefe Authentizität seines Gebetes.