Die Herausforderung der späten Messe, die Beethoven selbst als das ‚gröste(n) Werk(es), welches ich bisher geschrieben’ bezeichnet hat, ist außergewöhnlich. Meisterwerke mit ähnlich intensiver, künstlerischer Inanspruchnahme aller Ausführenden sind an einer Hand abzuzählen. Dennoch beginnt die Geschichte der Werkentstehung zunächst ganz unspektakulär:
1819 wird Erzherzog Rudolph, der einstige Schüler und treue Mäzen des Komponisten, zur Nachfolge im Amt des neuen Erzbischofs von Olmütz berufen. Auch in Anbetracht des schlechten Gesundheitszustands des Erzherzogs wird der Inthronisierungsgottesdienst auf den 9. März 1820 festgelegt. Beethoven erklärt zeitnah und mit großer Euphorie seine Bereitschaft, ‚zur Verherrlichung dieses Feyerlichen Tages bey(zu)tragen’. Die Missa wird jedoch nicht rechtzeitig fertig, der Erzbischof muss am 9. März 1820 mit einer bereits im Repertoire befindlichen Messe von Johann Nepomuk Hummel vorliebnehmen.
Die Vollendung der Missa solemnis verzögert sich schließlich um weitere drei Jahre; das fertige Autograph des Werkes liegt im Januar 1823 vor. Eine Partiturkopie wird dem Widmungsträger am 19. März 1823 von Beethoven überreicht – ein erneuter Fauxpas des Komponisten, der sich pikanterweise im Datum des Jahrestages der Bischofsweihe geirrt hat.
Ähnliche Konfusion verursacht Beethoven dann auch, als er verschiedenen Verlegern die ‚fast fertig angepriesene Partitur‘ anbietet, die jedoch noch lange nicht fertig ist. Er stellt zudem Vertragsabschlüsse in Aussicht, die dann aber nicht zustande kommen, da er nebenher anderen Verlagen weitere Angebote macht, um schließlich ein besseres Honorar aushandeln zu können. So müssen am Ende sogar vereinbarte Vorauszahlungen rückerstattet werden.
Die Missa solemnis wird am 18. April 1824 (also vor 200 Jahren) im Alten Philharmonischen Saal in St. Petersburg uraufgeführt sowie am 7. Mai 2024 in Teilen (Kyrie, Credo und Agnus Dei) in einer Wiener Akademie zusammen mit der 9. Sinfonie und der Ouvertüre ‚Die Weihe des Hauses’ unter Leitung des Komponisten.
Der Schott-Verlag veröffentlicht die Missa im April 1827, einen Monat nach Beethovens Tod. Die erste Gesamtaufführung nach Drucklegung des Werkes erfolgt 1830, also mit gehöriger zeitlicher Distanz.
Die Merkwürdigkeiten in der Werkentstehung finden ihre Entsprechung in den Strukturen und Ausmaßen dieser Messkomposition, die den roten Faden der Kirchenmusiktradition zwar aufnehmen, den eigentlichen liturgischen Rahmen –den Anlass der Komposition – in seiner Gestalt aber deutlich sprengen. Diese Missa passt nicht in die Kirche, sie gehört in einen Konzertsaal. Sie fügt sich nicht in einen Gottesdienst, sondern behauptet sich als ein inhaltliches Alleinstellungswerk im Konzertprogramm.
Alle Versuche, den Charakter des Liturgischen dennoch zu betonen, darunter auch neuere unserer Zeit, können den permanenten Zwiespalt zwischen abstrakter religiöser Gefühlswelt einerseits und dem konkreten dialektischen Prinzip der künstlerischen Konzeption andererseits nicht auflösen. Hans Heinrich Eggebrecht thematisiert 1997 in seinem Aufsatz ‚Spätwerk Beethovens’ diese Problematik und erkennt darin das „eigentlich Spätzeitliche“ der Missa solemnis: Es ist „das Heraustreten der religiösen Musik aus dem Kontext der kirchlichen Bindung. Der Messetext mitsamt der Elevation wird in religiöse Gefühle verallgemeinert. Der christliche Gott wird zur Gottheit, die Gemeinde zur Menschheit“. Die ‚Traditionsemphase‘ der Missa signalisiere „die Religiösität einer neuen Zeit, der Zeit post Aufklärung“.
Die Missa hat schon durch die zeitliche Nähe der Entstehung zum ‚Schwesterwerk’, der 9. Sinfonie, eine unüberhörbare Beziehung, die genau betrachtet inhaltliche Parallelwelten aufruft. Sven Hiemke beschreibt 2003 in seiner Werkeinführung (Bärenreiter) zur Missa die erstaunliche Zurückhaltung der Musikwissenschaftler, sich dem Werk analytisch zu nähern. Es brauchte mehr als 150 Jahre nach Entstehung, bevor musiktheoretische Bemühungen dem Bedürfnis einer Analyse der Satztechniken, einer Untersuchung der Skizzierung und Konzeptionsentwicklung der Werkanlage sowie einer gründlichen Auseinandersetzung mit Kompositionsstrukturen der Missa dem Anspruch und der Bedeutung des Werkes wirklich gerecht werden konnten.
Allein in Anbetracht der besonderen Herausforderung beim Lesen und Entziffern der Beethoven-Handschrift mag man ermessen, welche Probleme mit dem Studium der Manuskripte und handschriftlichen Quellen verbunden waren, zumal mit dem Wissen, dass die erste Publikation der Partitur nach Beethovens Tod erfolgte. Es mutet ganz natürlich an, dass letztlich eine Reihe von Missverständnissen bei den jeweiligen Editionen die Folge sein musste.
Neue Recherchen und Studien der Quellen und Skizzen gaben Ernst Herttrich 2010 den Anlass zu einer neuen Ausgabe im Carus-Verlag. Diese Version liegt der heutigen Aufführung zu Grunde und unterscheidet sich gelegentlich erheblich von anderen, bekannten oder gewohnten Fassungen. Die editorischen Abweichungen betrafen neben etlichen Details der Dynamik vorwiegend all jene Stellen der Partitur, die sich im Vergleich zu allem Gewohnten der damaligen Tradition sehr auffallend unterschieden.
Die Innovation der Missa solemnis war – und ist bis heute – kaum vergleichbar mit Werken der Zeitgenossen. So manches scheint auf den Kopf gestellt und wirft daher die Frage auf, ob es tatsächlich so gemeint sein konnte oder doch eher dem Versäumnis oder Versehen im Verlauf des Schreibens geschuldet sein musste. Vieles wurde vom jeweiligen Herausgeber ‚ergänzt’ oder angeglichen, weil die allzu kühne Abweichung vom gewohnten Schema der Messvertonungen Skepsis aufkommen ließ. Alle Differenzierungen in Parallelstellen scheinen die gleichen Zweifel verstärkt zu haben.
Dabei können gerade diese Unebenheiten des Werkes eine enorme Bedeutung entfalten. Die teilweise radikale Abkehr von tradierten Prinzipien im Komponieren einer Messe, wie beispielsweise die völlig ungewohnte Anlage des Sanctus als solistischer Vokalsatz und die Neugestaltung des Hosanna nach dem Benedictus, die gewöhnlich – und durchaus bis in unsere Zeit hinein – in der Wiederholung bestand, wirkt auch heute noch befremdend.
Das erste Hosanna beschränkt sich im Original auf die Besetzung der Vokal-Soli, obwohl sie durchaus chorisch strukturiert sind, das zweite Hosanna ist dann tatsächlich vom Chor zu singen. Die Notwendigkeit der Hosanna-Varianten mag auch plausibel sein, weil zwischen Sanctus und Benedictus etwas geschieht, was die Änderung der Musik erforderlich macht. Ein sinfonischer Gedanke durchzieht den Satz vom Sanctus zum Benedictus und widerspricht damit dem liturgischen Prinzip einer traditionellen, ritualisierten Wiederholung.
Ganz davon abgesehen gelingt es Beethoven, die Sätze Sanctus und Benedictus wie auch das Agnus Dei in seiner Aufführungsdauer deutlich zu verlängern, wodurch die Messe nicht wie gewohnt aus drei kleineren und zwei großen Sätzen besteht, sondern fünf Sätze gleichgewichtig behandelt. Das Benedictus und auch das Agnus Dei rücken damit in den musikalischen Fokus und bieten dem Gloria und Credo ein ebenbürtiges Gegenüber dar, ein Konzept, das Beethoven schon in seiner ersten Messe erfolgreich erprobt hatte.
Die Missa wirkt zunächst mysteriös verstörend, die Inspiration der Musik kann sich beim ersten Höreindruck nicht erschließen.
In seinem Aufsatz ‚Verfremdetes Hauptwerk’ von 1959 spricht Theodor W. Adorno der Missa solemnis das Prädikat eines Meisterwerkes generell ab und widerspricht einer Deutung, die das Besondere im Unverständlichen begründet. Er beanstandet nichts weniger als substanziellen Mangel an kompositorischer Qualität, satztechnischer Innovation und Ausprägung thematischer Einfälle. Die Wertschätzung der Missa beruhe auf dem banalen Umstand ihrer späten Entstehung, das Werk balanciere „auf einem Indifferenzpunkt, der dem Nichts sich annähert“. Nun ersetzen virtuose rhetorische Ambitionen weder im Allgemeinen noch im Besonderen innerhalb der Musikwissenschaft wirklich inhaltliche, intellektuelle Auseinandersetzungen. Adornos Beurteilung darf heute in seiner Gültigkeit getrost in Zweifel gezogen werden. Dennoch bleibt die Frage nach dem komplizierten Zugang, den das Werk gewährt, sowohl für Zuhörer als auch Ausführende.
Die Sprache des Herzens einer der größten Komponisten der Musikgeschichte erreicht unser Herz nicht selbstverständlich. Und das ist verwunderlich. Als Motto schreibt Beethoven im Autograph über das Kyrie den legendären Satz: ‚Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen!’ Das weckt den Anspruch auf eine Hörerfahrung, die sich nicht einlöst. Woran liegt das?
Die Komplexität der grundlegenden Werkstruktur entspricht der technisch- handwerklichen Ausführung der Komposition. Bei durchaus üblicher Orchesterbesetzung seiner Zeit, verknüpft Beethoven die Instrumente zu neuen Klangregistern. Das Kontrafagott emanzipiert sich in gewisser Art vom Holzbläsersatz und gesellt sich zum Mitspieler der Streicher-Kontrabässe. Die Hörner wechseln ihre Funktionen, wie auch die Posaunen, die teilweise die Gewohnheit der Wiener Klassik bedienen und den Chor colla parte begleiten, um schnell wieder eigenständig zu werden.
In den Holzbläsern dominiert das Beethoven-Register, eine Kombination aus Klarinetten und Fagotten, die sehr oft im vierstimmigen Satz geführt werden und den Kern im Tonsatz bilden. Dieses ‚neue’ Holzbläserregister hat sich im Laufe der kompositorischen Arbeit Beethovens herausgebildet und bedingt eine tatsächliche historische Innovation, die – von Brahms aufgegriffen – sich im Zeitalter der Romantik als ein bedeutendes klangliches Element etablierte.
Die Stimmführung insbesondere im Chorsatz ist extrem ungewohnt, wirkt auf den ersten Blick ungeschickt, ist aber stets inhaltlich motiviert. Die ständigen Sextsprünge in den verschiedenen Stimmen des Chores und der Soli sind nicht nur auffällig; sie bilden neben einer sehr komplizierten rhythmischen Gestalt der Themen und Motive, die für Beethovens Sprache sehr bezeichnend und charakteristisch ist, ein besonderes Gestaltungselement. Nebenbei sind sie auch die eigentliche Herausforderung beim Einstudieren des Werkes.
Walter Riezler hatte bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in seinem Beethoven-Buch eine motivische Klammer innerhalb der Missa entdeckt, die er als Urmotiv und kompositorische Urzelle ausmacht. Diese ist hingegen sehr unspezifisch und kann nur als ein abstraktes Profil gedeutet werden, das sich in einer mottoartigen Disposition der Motive manifestiert.
Carl Dahlhaus konstatierte auf diesem Hintergrund „submotivische Zusammenhänge“, die sich prozesshaft in sinfonischer Form zu erkennen geben und Referenzpunkte setzen, die letztlich ihren formalen Zusammenhalt garantieren. Es ist eine „halb latente, submotivische Schicht des Tonsatzes“, die Dahlhaus für die Missa 1987 in seinem Beethoven-Buch dokumentiert. Die Musik der Missa ‚bietet’ sich dem geneigten Hörer nicht an, sie lädt lediglich zur Beobachtung einer sich selbst entfaltenden Eigendynamik ein.
Skalenbewegungen in Gegenrichtung durchziehen die Kontrapunktik an vielen Stellen, in der von einer Vollkommenheit und Erfüllung die Rede ist, die sich uns als allgemein-religiöse Vision präsentiert und ganz unspezifisch letztlich auf Worte verzichtet. Sie gibt der musikalischen Sprache den Raum der „‚Kunstwerdung’ des Gottesdienstes“, den Jan Assmann 2020 in seinem Buch ‚Kult und Kunst’ der Missa beimisst. Das Ordinarium dient in diesem Sinne als Libretto eines Oratoriums und emanzipiert sich vom Rahmen der Vorlage.
Es mag paradox anmuten, aber Beethovens ausdrücklicher Verweis auf seinen Bezug zur Tradition der Kirchenmusikgeschichte, seine Auseinandersetzung mit Werken alter Meister und das Studium der Gregorianik, mit der er sich im Zusammenhang der Komposition intensiv beschäftigte, stehen in keinem Widerspruch zu dieser musikalischen und künstlerischen Grundidee, ganz im Gegenteil. Adornos These von der ‚Neutralisierung’ beim Wechsel der Perspektiven aus dem Lebenskontext heraus kann der Bedeutung der Missa solemnis nicht gerecht werden, weil sich die ‚neue’ Messe in der Art ihrer ‚Kunstwerdung’ als musikalisches Gegenüber emanzipatorisch verhält und damit neue Perspektiven eröffnet, die den eigentlichen funktionalen Anlass quasi transzendieren. Hier entsteht etwas Neues, was jedoch dem modernen Hörer heutiger Kirchenmusik längst geläufig ist.
Bereits im Kyrie behauptet Beethoven in seiner differenzierten, motivisch-thematischen Arbeit den Gedanken des Sinfonischen, der sich in der gewohnten A-B-A–Form zwar entfaltet, aber eigenständig entwickelt. Schon jetzt besteht, die Absicht des Komponisten betreffend, kein Zweifel. Grundsätzlich wird dem kontemplativen Kyrie ein kontrapunktisch aktives Christe entgegengestellt.
Fortgesetzt wird die Komposition durch ein weit ausgespanntes Gloria, das sich in seiner Substanz als ein einziger euphorischer Ausbruch darstellt. Die wenigen lyrischen Inseln (Et in terra pax, Gratias) im kraftvollen Lobgesang verstärken diesen in ihrem Kontrast, bis schließlich das Qui tollis dem lyrischen Ton zur Gemeindeliedtauglichkeit verhilft, der durch rhythmische Miserere-Rufe unterbrochen wird und zu neuem Lobgesang überleitet: Qui sedes ad dexteram Patris. Das opernhaft verfremdete liturgische ‚ah! miserere nobis’ beendet dann die Episode in den Bitten der gläubigen Gemeinde und führt zurück in den Anfangston des Glorias, der in eine großangelegte Fuge mündet, die von einem ungewöhnlich markantem Fugenthema dominiert wird und welches seine Durchführung zielstrebig auf eine Stretta zusteuern lässt, in der mit allen Raffinessen der kontrapunktischen Satztechniken (Engführung des Themas, nebst Augmentation und Verwandlung in einen Fauxbourdon) sich die Musik vom Anfang des Satzes überschlägt und im Presto-Rausch entlädt.
Das Credo ist inhaltlich sehr viel differenzierter und untergliedert sich in detaillierte Mosaike. Ein wesentlicher Höhepunkt ist die Proklamation der Menschwerdung Jesu Et homo factus est, der quasi die Mitte des Werkes markiert und in seinem Maestoso wie ein humanistisches Manifest der Aufklärung den religiösen Glaubenssätzen ein säkularisiertes Bekenntnis beifügt.
Für das Et incarnatus verschafft Beethoven dem Chortenor eine besondere, heraus gehobene Funktion. Im Ton einer Choralschola werden die Lebens- Stationen Jesu eingeleitet. Der Chortenor behält die hervorgehobene Position inne, wenn er nach dem kleinteilig und ins Motivische zergliederten Crucifixus die Auferstehung proklamiert. Zudem ist dem Chortenor allein die Vertonung des Satzes: Credo in unam sanctam catholicam et apostolicam Ecclesiam vorbehalten. Sie verliert sich indes im eiligen Satzgeflecht mit den anderen Stimmen und wirkt eher pro forma ‚untergebracht’.
Zum Abschluss überrascht uns Beethoven mit der ungewöhnlich verhalten beginnenden Et vitam venturi-Fuge. Sie wirkt wie ein Allegro im Zeitlupentempo und zwingt uns zuzuhören. Das ewige Leben gestaltet sich hier wie eine Vision der Vollkommenheit. Wir werden sie am Ende des Dona nobis pacem wiederfinden. Unterbrochen von einem episodenhaften Ausbruch in Tempo und Dynamik – die Unterbrechung der Zeitlupe –, endet das Credo in der Abgeklärtheit einer Gewissheit.
Wie schon bemerkt, verharrt Beethoven nunmehr beim Sanctus in einer intimen Vortagsart, die –wie schon beschrieben – zum innigsten Moment der Messe überleitet, dem Benedictus. Ein Präludium, die instrumentale Einleitung, leitet zu einem solistischen Part der Missa über, die das Wort im wahrsten Sinne hinter sich lässt. Die Sologeige wird zur neuen und bestimmenden Solistin innerhalb dieses Satzes.
Mit dem Abschluss im Agnus Dei gelingt Beethoven ein spektakuläres Meisterstück, dass in seiner expressiven Intensität und der musikhistorischen Bedeutung außergewöhnlich war und bis heute bleibt. Thema ist – wie Beethoven noch einmal im schriftlichen Zusatz versichert – die Bitte um inneren und äußeren Frieden. Krieg und Frieden werden dialektisch angelegt und unüberhörbar in These und Antithese gegenübergestellt. Im zweiten Teil des Satzes verwendet Beethoven das eigentliche Agnus Dei zur Vorlage seiner Kriegsmusik, das mit Trompetensignalen und der Pauke unzweifelhaft in seiner Bedeutung erklingt und mit ängstlichen Rufen nach Frieden beantwortet wird.
In den Aufzeichnungen von Ferdinand Ries zitiert dieser Erinnerungen des Bruders Caspar, als 1809 die napoleonischen Truppen Wien belagerten. Beethoven verbrachte „die meiste Zeit in einem Keller bei seinem Bruder Caspar“, „wo er noch den Kopf mit Kissen bedeckte, um ja nicht die Kanonen zu hören“. Leider haben wir heute nach 200 Jahren keinen Anlass, dieser traumatischen Erfahrung in Zusammenhang mit Kriegserlebnissen neutral zu begegnen. Beethovens Werk ist erschreckend aktuell geblieben und erschüttert gerade heute zutiefst.
Die kontrapunktischen Skalen in Gegenbewegung beenden die eigenwillige Messe. Es bleibt die Hoffnung, der Schlussakkord, das Ende des Werkes aber ist offen, denn die Bitte um Frieden ist auch heute noch visionär.
Wenn man den Notentext sehr genau liest und die Beethoven-Akzente nicht unbeachtet lässt, stößt man am Ende auf die Frage des Skeptikers im Notentext des Chores: „Pacem?“ Die Frage beantwortet sich der Komponist selbst: „Pacem!“ Dem verzweifelten Schrei des Chores über den sich in eine Orchesterschlacht verwickelnden, unwirklichen Rhythmen eines Militärmarsches: Agnus Dei, dona pacem! begegnet der Optimist Beethoven mit einem bestimmten: Pacem, pacem!!
Vielleicht lassen wir uns vom Komponisten anstecken, nehmen seine Vision mit nach Hause und tragen seine Hoffnung in unsere Welt.