Musik für Frauenstimmen hat von jeher eine große Faszination auf mich ausgeübt. Während Männerstimmen nicht selten eine bestimmte Grundtönigkeit mit in den Satz einbringen – ein Denken von unten nach oben, das die musikalische Textur nicht nur farblich, sondern vor allem auch architektonisch und strukturell bestimmt – können Frauenstimmen für sich genommen auch ganz eigene, nicht minder reizvolle Qualitäten entfalten: die Gleichberechtigung der Stimmen im Raum, die farbliche Nuancierung im Äquivalenten, vor allem aber die Aufhebung des Chordenkens von unten nach oben in der Konzentration auf einen kleineren, klanglich homogen(er)en Raum.
Als (selbständige) Werke für Frauenchor und Orchester sind die beiden Stücke „wer / wir sind“ und „atem / finden“ meiner Dialog-Oper „Fidelio schweigt“ (2020) entnommen. Mit ihnen wurden zwei Szenen in das Opernganze hinzu erfunden, die das Beethovensche Original so nicht vorsieht: In „wer / wir sind“ treten Frauen auf die Bühne, Künderinnen könnten es sein aus der Antike, Unbekannte aus ferner Zeit, Klagende, die dennoch erhaben sind über dem Schicksal, das sie als Frauen, Mütter, als Genossinnen oder Gattinnen im Laufe der Geschichte erlitten haben. Was wissen sie? Wovon künden sie? Von welchem Unrecht sprechen sie, das früher wie heute stets aufs Neue aufgerufen worden ist und das sie zu heilen suchen, indem sie es immer wieder aufs Neue benennen? Es war der „ferne Raum“, der mich an diesem Stück interessiert hat, die Distanz der Frauen zu ihrer eigenen Geschichte, die zugleich in einer fast naturhaft girrenden Klangkulisse des Orchesters aufgeht. Als Künderinnen sind sie von fast unkörperlicher Erscheinung, ohne Pathos und Beugung, und dennoch hinterlassen sie eine Botschaft, die sich im Hier und Jetzt entfaltet. Es war die Besetzung des Frauenchors, die mich darin reizte, Nähe und Ferne, ästhetische Klarheit und geräuschhafte Durchbrechung zugleich wirksam werden zu lassen, während sich das Orchester zugleich in eine naturhafte, gellende Klanglandschaft verwandelt. „Schau dich an“ – so die letzte Verszeile des Stückes, die in unterschiedlichen Intervallvarianten präsentiert wird. Schuld steht nie im luftleeren Raum. Sie wird von Menschen gemacht.
In „atem / finden“, einer Szene aus dem II. Akt des Musiktheaters, treten die Frauen erneut auf die Bühne. Sie finden nun einen Atmenden vor, den sie bereits tot geglaubt haben, sprechen dem Himmel Dank dafür aus. Atem als Zeichen des Lebens fließt hier genau so, wie in „wer / wir sind“, dem ersten Frauenchor, und doch dürfen Luft und Atem nun Teil der Sprache wie auch der unmittelbaren Kommunikation der Frauen sein, die sich nun neu begegnen.
Beide Frauenchor-Werke sind im Rahmen meiner Dialog-Oper „Fidelio schweigt“ entstanden, die ich im Jahr 2020 als Auftragswerk des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen und der Beethoven-Jubiläums-Gesellschaft Bonn 2020 geschrieben habe. Sie können jedoch auch als eigenständige Werke aufgeführt werden, die konzertant, ohne Verweis auf die Oper und ihre Handlungsstrategien, zum Klingen gebracht werden. Coronabedingt musste die Uraufführung der Oper mehrmals verschoben werden, sie findet nun im November 2023/24 im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen statt (Regie: Hermann Schneider, Musikalische Leitung: GMD Rasmus Baumann). Besonderen Dank gilt an dieser Stelle dem Intendanten Michael Schulz, der die konzertante Voraufführung der beiden Stücke durch Thomas Hennig und den Berliner Oratorienchor in Berlin ausdrücklich unterstützt und diese freundschaftlich begleitet.
Charlotte Seither
wer / wir sind
für Frauenchor und Orchester (2020)
nach Text von Hermann Schneider
Wir wissen
Wir sind [es],
Von dem Unglück wissen,
das wir tragen,
und das wir immer
und immer benennen.]
Und rufen
das Unheil zu heilen
Schau dich an.
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atem / finden
für Frauenchor und Orchester (2020)
nach Text von Hermann Schneider
Er atmet, er lebt!
[Was in mir vorgeht, ist unaussprechlich.]
Unaussprechliche Freude.
Er atmet, er lebt!
[Wenn ich denn verdammt
bin, hier mein Leben zu enden… ]
Wer kann das ertragen?
Dem Himmel sei Dank.
(Es geht mir wider meinen Willen zu Herzen.
(Die in eckiger Klammer markierten Partien sind aus der Komposition ausgespart).