Ein großer Name ist aus der Welt geschieden! Er verkörperte das umfassendste, das populärste Ansehen unserer Zeit, und er war Italiens Ruhm! Wenn der andere, der noch lebt, nicht mehr sein wird, was wird uns bleiben?
(Brief an Freundin Clara Maffei am 14. November 1868, ein Tag nach Gioachino Rossinis Tod)
Der Tod Rossinis war für Verdi nicht nur ein Anlass pathetischer Erklärungen, sondern löste in ihm auch kreativ etwas aus. So konzipierte der erfolgreiche Opern- Komponist ein einmaliges Projekt mit Beiträgen verschiedener Komponisten zum Gedenken an den Tod des „großen Namens“. Das eigentliche Projekt blieb über ein Jahrhundert lang unaufgeführt, der Tod des „anderen, der noch lebt“, – damit ist der Dichter Alessandro Manzoni gemeint – veranlasste Verdi dann doch zu der vollständig selbstkomponierten „Messa da Requiem”, eines der meistgespielten Chorwerke überhaupt, was sich seit der Entstehung eines unnachlässigen Status als Meisterwerk rühmt. Nach wie vor beschäftigt sich die musikinteressierte Hörerschaft mit den Fragen nach dessen Bedeutung in Verdis Werk und in Bezug auf die Rezeption geistlicher Musik schlechthin. Wie man auch anhand seiner Opern (man denke zum Beispiel an die Großinquisitor-Szene in „Don Carlos”) sehen kann und es in seinen persönlichen Äußerungen im Briefwechsel deutlich wird, war Verdi keineswegs ein Freund der katholischen Kirche, vielmehr ein Zweifler in Glaubensfragen. So stellt sich die Frage, inwiefern es sich überhaupt um ein wirklich geistliches Werk handelt oder ob das Format der Totenmesse das einzig würdige Mittel war, das Verdi zur Verfügung stand um diese nationalen Ikonen angemessen zu würdigen.
Bevor Verdi sich zum italienischen Operndirigenten schlechthin entwickelte, hatte Rossini diesen Titel eine Generation vor ihm inne. Seine größtenteils Belcanto-Opern sind vielleicht allein schon wegen der fließbandartigen Schnelligkeit, in der sie herausgebracht wurden und der recyclinghaften Herangehensweise des Komponisten im Umgang mit musikalischen Material heute nicht mehr so angesehen und weniger oft auf den Spielplänen wie die Opern Verdis – dennoch ist seine Bedeutung für das Genre überhaupt und für die italienische Musikwelt speziell nicht zu unterschätzen. So ist es auch verständlich, dass Verdi nach dessen Tod ein unvergleichliches Projekt in Gang zu setzen versuchte: Die damals größten italienischen Komponisten sollten einen Beitrag zu einem gemeinsamen Requiem leisten, welches man bereits ein Jahr später zu Rossinis erstem Todestag aufführen würde. Mit viel Elan stürzte sich der Initiator in dieses Projekt und legte viel Wert auf eine respektvolle und kompromisslose Verwirklichung des Werks. Trotz des Zeitdrucks reichte jeder Komponist seinen Teil ein (Verdi selbst verfasste das „Libera Me”) und das gemeinsame Werk war somit eigentlich bühnenreif. Aufgrund von bürokratischen und organisatorischen Diskrepanzen kam die Aufführung allerdings nicht zustande. Erst die Nachwelt konnte sich an einer Uraufführung der „Messa per Rossini” 1988 in Stuttgart erfreuen. Im Jahr 1869 legte der Initiator Verdi die Requiem- Idee vorerst beiseite.
Erst der ähnlich signifikante Tod des Dichters Alessandro Manzonis im Jahre 1873 war für Verdi der Anlass, ein vollständiges eigenes Requiem zu komponieren. Ähnlich wie Rossinis Stellung für die italienische Musik war Manzonis Rolle für eine eigenständige italienische Dichtung. Auch ähnlich wie bei Rossini, sah Verdi sich genötigt, zum einjährigen Todestag der Ikone das Requiem aufzuführen. Das Resultat sprengte Dimensionen, was den Umfang und die Aufführung betraf. Seit der „Grande Messe des Morts” von Hector Berlioz hat das Format der lateinischen Totenmesse die Institution Kirche in Richtung Konzerthalle verlassen und bewegte sich losgelöst von rituellen Vorgaben. Brahms (in Verdis Nachlass fand man eine Partitur von „Ein Deutsches Requiem”) und Liszt folgten diesem Trend. Verdi selbst orientierte sich vor allem an Mozarts Beitrag zu der Gattung, wie er auch in der geistlichen Musik seiner Landsleute Cherubini und eben Rossini Vorbilder sah. Mit eineinhalb Stunden Länge ist es besonders verlockend, das Werk als geistliche Oper oder gar als Verdis beste Oper zu sehen, anstatt als eigenständig positioniertes Werk. Stilistisch lässt es sich durchaus in die zeitlich benachbarten Opern anordnen und auch eine gewisse szenische Dramaturgie lässt sich zum Beispiel mit der Rollenverteilung der Stimmen belegen – eine Oper ist es allerdings immer noch nicht.
Ein weltliches Requiem
Schaut man sich die Motivation Verdis an, die ihm zum ersten und zweiten Requiem veranlassten, war es – wie bereits erwähnt – jeweils der Tod eines bedeutenden Landsmanns, der ausschlaggebend war. Für die Uraufführungen bestand er darauf, dass sie in Kirchen stattfinden sollten, dies ist aber kaum als Geste seiner Spiritualität zu sehen, sondern als symbolische Deklamation des Anlasses. Grundsätzlich besteht die Frage, welchen Bezug er persönlich noch hatte, sich dieses Textmaterial zu eigen zu machen. Was verband ihn noch mit der Kirche? Manzoni selbst war überzeugter Katholik gewesen; vielleicht sah Verdi in der Religion und ihren Texten eine Brücke der Verständigung, mit der er auch seiner eigenen Nähe zum italienischen Volk Ausdruck geben konnte.
Verdis wie Manzonis Schaffen wird in diesem Kontext gern in einen Zusammenhang mit der italienischen Nationalbewegung „Risorgimento“ gesetzt; nicht nur wegen der zeitlichen Parallelität, sondern weil Opern wie „Nabucco” oder „Atilla” mehr oder weniger subtil, die Wünsche nach nationaler Einheit widerspiegeln. Im frühen 19. Jahrhundert war Italien, ähnlich wie Deutschland, ein in Herzogs- und Fürstentümer aufgespaltenes Land. Verdis Heimat in Parma stand wie der Großteil Norditaliens unter Habsburgischem Einfluss, während die Mitte Italiens um Rom dem Kirchenstaat angehörte und im Süden die wohlhabenden Königreiche Sardinien und Sizilien in Stabilität herrschten. Angesichts der permanenten Bedrohung französischer Machtübernahme im Norden, zunehmender ökonomischer Perspektivlosigkeit und der damit einhergehenden existentiellen Probleme der Bevölkerung, nahm die Auswanderung vor allem nach Amerika stark zu, was den Ruf nach nationaler Identität um so mehr stärkte. Auch Verdis persönliche Haltung zu dieser Bewegung schwankt zwischen Mythologisierung und persönlicher Distanz. So lässt sich – ohne Vorwurf – eines belegen: Wenn sich die inneren Konflikte des Landes zuspitzten, zog sich der Nationalheld doch lieber ins sichere Paris zurück, als auf den heimischen Barrikaden mit seinen Landsleuten zu kämpfen.
Auch das Verhältnis zur katholischen Kirche ist in der Bewegung kontrovers diskutiert worden: Einerseits wurde von Teilen der Bewegung eine strikte Trennung von Kirche und Staat verlangt, andererseits war die Institution entsprechend tief mit Rom und der Umgebung verankert. Hinzu kam die nicht zu unterschätzende Rolle der Religion als vereinigendes Element. Manzoni selbst ging in seinem Leben einen Wandel durch, der von einer bloßen Anerkennung der Kirche im frühen Schaffen bis hin zu bekennendem Enthusiasmus im Spätwerk führte, wo er die katholische Erlösungslehre auch als Schlüssel zur Selbstverwirklichung darstellte.
Verdi, für den Manzoni einer der wenigen Zeitgenossen war, vor dem sein äußerlicher Stolz in tiefe Demut umschlug – Zeugen berichten so von der einzigen Begegnung dieser Giganten – nahm sicherlich auch diese Charakterisierung mit in die Komposition des Requiems auf. Dass sich der von beiden wie vom Großteil der Risorgimento-Anhänger anfangs als hoffnungsbringend gesehener Papst Pius IX später als Enttäuschung enttarnte, als er sich weigerte das neugegründete Italien anzuerkennen, steuerte sicher auch zu Verdis Distanz gegenüber dieser Institution bei. Die katholische Kirche war für ihn mehr ein unvermeidbares Mittel zum Zweck, aber keine Autorität.
Verdi war zur Zeit der Entstehung des Requiems, als Italien also bereits vereint war, schon längst kein hauptberuflicher Komponist mehr, sondern lebte zurückgezogen auf dem Lande. Hin und wieder war er auch politisch aktiv, für eine kurze Zeit sogar als Abgeordneter (eine Rolle in der er aber größtenteils durch Abstinenz auf sich aufmerksam machte), und setzte sich für das Wohl in seiner Region ein. Wie seine Opern war allein der Name Verdi schon zu Lebzeiten zu einem Symbol der kulturellen Größe Italiens geworden – als Paradebespiel denke man nur an den Gefangenenchor aus der Oper „Nabucco”, der gern als inoffizielle Nationalhymne gehandhabt wird. So ist das Requiem vielleicht als Geste der Dankbarkeit an seine italienischen Mitmenschen zu denken, verfasst in einer bedeutungsgeladenen Symbolik und in einer musikalischen Sprache, die für alle verständlich ist.
Verdi und der Tod
Wer Verdis Opern kennt, weiß dass eine Auseinandersetzung mit dem Tod keineswegs etwas Neues in seinem Schaffen ist. Für jemand, der schon mit Mitte zwanzig innerhalb eines kurzen Zeitraums das Ableben der ersten Frau und zweier Kinder verarbeiten musste, scheint es verständlich, dass eine Beschäftigung mit dem Tod das Werk durchläuft. Schaut man sich seine weltberühmte „La Traviata” unter diesem Gesichtspunkt an, ist das Stück eine langsame Darstellung des Sterbeprozesses der Protagonistin. Neben diesem tragischen Krankheitstod, ist so mancherlei Finale in seinen Opern mit (mindestens) einem Mord besiegelt und diese Besessenheit zieht sich durch das ganze Werk, wo die ernüchternd Verzweiflung und Endgültigkeit des Leidens sicherlich zum Klischee des fatalen und überdramatisierten Opern-Finales beigetragen haben. Er selbst sagte gegenüber Kritikern seiner Uraufführung von „Il trovatore”: „Man sagt, diese Oper sei zu traurig und es gäbe zu viele Tote darin. Aber schließlich ist im Leben doch alles Tod? Was lebt schon?“
Im Gegensatz zu Wagners Opern, wo der Tod eine tragende metaphysische Rolle spielt und gar gleichbedeutend mit der Erlösung und dem Endzweck der jeweiligen Helden und/oder Heldinnen wird, bleibt Verdi stets im weltlichen Rahmen und bei der dramatischen Vernetzung in einer Art poetischen Gerechtigkeit. Ein Jenseits oder das Versprechen einer universellen Versöhnung spielen keine tragende Rolle. Sollte es bei seinem einzigen großen geistlichen Werk – ausgerechnet einer Totenmesse – anders sein?
Lassen sich auch im Aufbau und der Gestaltung seines Requiems Hinweise auf eine weltliche Interpretation des geistlichen Stoffes finden? Ist der immer wiederkehrende „Dies Irae”- Satz eine Erinnerung an die Unvermeidlichkeit eines gnadenlosen Ablebens beziehungsweise ein Ausdruck Verdis eigener Todesangst? Wo ist der große Befreiungsschlag und warum fehlt die glorreiche Fahrt ins Paradies? Den agnostischen Geist dieses Werks hört man vor allem im Finale: ein ruhiger, heruntergespielter Ausklang, ein immer leiser werdender Ruf nach Befreiung im „Libera Me”. Dass Verdi seinen Hörern die große Erlösung schuldig bleibt, sagt viel über seine Ambivalenz aus, soll dem Komponisten aber nicht einen Mangel an spiritueller Verbindung unterstellen, wie sich jeder aufmerksame Zuhörer selbst überzeugen kann, der die Musik für sich selbst sprechen lässt. Kein anderes Requiem vorher oder nachher beansprucht seine Hörerschaft auf diese umfangreiche und qualitativ hohe Weise und auch jenseitige Elemente lassen sich nicht bestreiten, wenn man sie denn sucht.
So nimmt uns Verdi auch ohne Erlösung nicht die Möglichkeit einer tiefgründigen Auseinandersetzung mit unserem Ableben. Weder sollen wir zu entmutigten Nihilisten erzogen werden, noch soll man sich einem Dogma unterwerfen. Es handelt sich um eine Totenmesse für die Lebenden in der Welt, ein Aufruf das Leben zu schätzen und dem Tod zwar bestürzt aber mutig, ernsthaft und nicht lebensmüde oder schönredend entgegenzusehen. Verdi hat den liturgischen Text aus der Kathedrale in die alltägliche menschliche Erfahrung versetzt und ihn so zu einer zeitlosen Position zu Leben und Tod gemacht, was keinen Menschen, unabhängig von Konfession, religiöser oder philosophischer Überzeugung, unberührt lässt.